Demokratie lehren – Demokratie verwehren: Das paradoxe Mitbestimmungsrecht der Bildungsakteure im Bildungssystem

Kolumnenautor Paul Messall neben dem Schriftzug "Der kritische Blick: Bildung und System", daneben eine rote Lupe

Am 20. Juni war es wieder so weit, mehrere tausend Lehrkräfte und pädagogische Mitarbeitende wurden von der GEW aufgerufen, in Berlin auf die Straße zu gehen. Die primäre Forderung ist bereits seit Längerem bekannt: kleinere Klassen – ein Wunsch, der mindestens schon so lange besteht wie die GEW selbst. Viele weitere Forderungen und Wünsche vonseiten des Bildungspersonals und der Schüler und Schülerinnen sind ebenso lange ein Streitthema. Wie steht es im Grundgesetz? Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat. „Demokratisch“ – das bedeutet Mitbestimmung. Doch warum funktioniert das im Schulsystem nicht?

Veränderungen? Ja, aber keine demokratischen

Das deutsche Schulsystem befindet sich im Wandel. Seit Jahren bestimmen Fachkräftemangel, Sparmaßnahmen, schulische Rahmenbedingungen sowie langwierige, bildungspolitische Debatten den Alltag und die Bildungsqualität an Schulen und Kitas. Der PISA-Schock von 2022 sitzt noch immer tief. Die Bildungspolitik fühlt sich genötigt, schnell zu handeln. Doch nicht alle Veränderungen scheinen zu fruchten, insbesondere wenn sie über die Köpfe der Bildungsakteure hinaus entschieden wurden.

Ein Blick in die tagesaktuellen Medien genügt, um die Fehlentscheidungen der Bildungsministerien nachzuvollziehen. In Sachsen-Anhalt sollen die Lehrkräfte aufgrund des anhaltenden Lehrkräftemangels eine Stunde mehr unterrichten, von der Landesregierung euphemistisch „Vorgriffsstunde“ genannt. Die Lehrkräfte klagten und unterlagen. Einer Lehrerin wurde sogar gekündigt, auch sie ging vor Gericht, das Ergebnis: Die Kündigung sei laut Arbeitsgericht rechtens. Wie viel Mitspracherecht hatten die Lehrkräfte bei dieser Entscheidung? Keines, so Christiane Rex, Pressesprecherin der GEW Sachsen-Anhalt. Die GEW Sachsen-Anhalt sei selbst mit dieser Ankündigung überrumpelt worden. Es habe keine vorherige Kommunikation zu dieser Entscheidung zwischen der GEW Sachsen-Anhalt und der Landesregierung gegeben - Mitspracherecht Fehlanzeige. Bereits zur Einberufung des Bildungsgipfels im Frühjahr 2023 war die Entscheidung zur Mehrarbeit beschlossene Sache. Die Maßnahme, deren ursprünglicher Sinn der Bewältigung des Lehrkräftemangels galt, führte mit der Kündigung sogar ins Gegenteil sowie zu einer erheblichen Zunahme ausgebrannter und demotivierter Lehrkräfte. Fakt ist, dem gegenwärtigen Wunsch nach weniger Stunden, kleineren Klassen und einer entsprechenden Lösung wurde bisher nirgendwo entsprochen.

Eine weitere Kuriosität im Mitspracherecht der Lehrkräfte bilden die Zwangsversetzungen von Lehrkräften, die aktuell im großen Maße stattfinden. Zwangsversetzung ist das Weiterreichen von Lehrkräften einer Schule zu einer anderen, auch ohne Zustimmung der jeweiligen Lehrkraft. Dabei sind es jedoch nicht die Schulen, die dies verantworten, sondern die Bildungsministerien. Die Folge sind teils erheblich längere Wege zur Arbeit und ein komplett neues Umfeld. Lehrkräfte werden wie Ware behandelt, die mittelalterlich zum Tausch angeboten wird. Weigert sich die betroffene Lehrkraft, bringt dies berufliche Konsequenzen mit sich, genauso wie bei der Vorgriffsstunde. Eine weitere Methode, den Lehrkräftemangel zu beseitigen, indem man ihn fördert.

Diese Maßnahmen stehen im klaren Widerspruch zur zeitgleich stattfindenden Anwerbung neuer Lehrkräfte, um den Lehrkräftemangel zu senken.

Die angehenden Lehrkräfte, also die Studierenden sowie Referendare und Referendarinnen, beschreiben den Weg in den Lehrkräfteberuf ebenso als steinig. Auf Beschwerden der Studierenden über das praxisferne Lehramtsstudium wird ebenso wenig eingegangen, wie auf den Arbeitsdruck und psychische Belastung im Referendariat. Angehende Lehrkräfte trauen sich oft nichts zu sagen und lassen meist alles über sich ergehen, weil sie Angst vor beruflichen Nachteilen in der Zukunft haben.

Auch die Rezipienten des Schulsystems, die Schüler und Schülerinnen, entgehen dieser Misere nicht. Die Jugendlichen sehen sich dazu verantwortlich, selbst etwas ändern zu müssen. Sie gehen in ihrer Freizeit auf die Straße, demonstrieren, schreiben an die Bildungsministerien und engagieren sich. Das klingt im ersten Moment vielleicht vorbildlich. Auf den zweiten Blick zeigt sich jedoch, dass den Kindern und Jugendlichen bereits eine Verantwortung auferlegt wird, die eigentlich die Aufgabe kompetenter Erwachsener wäre. 

Die wenigen Umfragen an Schüler und Schülerinnen haben ergeben, dass diese sich den pädagogischen Einsatz neuer, digitaler Medien wünschen. Ein Blick in die Schulen genügt, um den Stand der Digitalisierung zu sehen. Die Bildungspolitik brüstet sich, dass es an jeder Schule ein oder zwei Beamer gibt. Wie konnte die Modernisierung des Schulsystems so ins Stocken geraten? Weitere Umfragen ergaben, dass sich die Lernenden in der Schule nicht gut genug auf das Leben vorbereitet fühlen. Auch in dieser Hinsicht werden die Belange der Kinder und Jugendlichen ignoriert.

Ebenso zeigen sich die Auswirkungen im Kindergarten. Seit Längerem werden die Kitas bestreikt. Erzieher und Erzieherinnen wünschen sich bessere Arbeitsbedingungen und eine bessere Ausbildung zu diesem Beruf. In einigen Teilen Deutschlands kommen bis zu zehn Kinder auf einen Erzieher bzw. eine Erzieherin. Die Belastung des pädagogischen Kita-Personals ist hoch, Überstunden und Überlastung sind keine Seltenheit. Langfristig verliert die Kinderbetreuung Qualität. Aus diesem Grund geht die Verdi mit dem Kita-Personal streiken, um darauf aufmerksam zu machen. Auch die ver.di-Arbeitszeitbefragung unterlegt die Belastung der Erzieher und Erzieherinnen. Bisher gab es auch hier keine Einigung, sodass weiterhin von oftmals schlechten Arbeitsbedingungen ausgegangen werden darf.

Eine weitere despektierliche Veränderung betrifft die Erzieher und Erzieherinnen an Berliner Brennpunktschulen, deren Brennpunktzulage vor Kurzem gestrichen wurde. Das bedeutet weniger Gehalt für den gleichen Job. Die Berliner Bildungssenatorin bezeichnete die Zulage sogar als Irrtum. Die Erzieher und Erzieherinnen der Brennpunktschulen fühlen sich missachtet und fordern, dass ihre Tätigkeit angemessen anerkannt wird. Eine Einigung ist bei dieser Angelegenheit jedoch noch nicht in Sicht.

Hohe Abbruchquoten im Studium und in der pädagogischen Ausbildung zeugen nicht unbedingt von Desinteresse am Beruf, sondern von schlechten Bedingungen in der Ausbildung. Auch dazu existieren zahlreiche Forderungen von Studierenden und Auszubildenden. Forderungen der Lehramtsstudierenden befassen sich etwa mit der Optimierung des Lehramtsstudiums und der Kritik an den praxisfernen Inhalten sowie der Reformation bis Abschaffung des Referendariats.

Bei allen angeführten Forderungen handelt es sich lediglich um einen Bruchteil der eigentlichen Wünsche der Bildungsakteure. Das befassende Gebiet reicht weit darüber hinaus. Die genannten Beispiele veranschaulichen diese prekäre Problematik daher nur basal.

Eingeschränktes Demonstrationsrecht für Bildungsakteure 

Widersprüchlich zeigt sich ebenso das demokratische Verhältnis im Schulsystem, wenn es um das Streik- und Demonstrationsrecht von Lehrkräften, Schülern und Schülerinnen geht. Verbeamteten Lehrkräften ist es untersagt, zu streiken. 2023 klagten einige Lehrkräfte dagegen. Wie üblich in diesem Beruf haben die Lehrkräfte wieder verloren – das Streikverbot ist rechtens, der Tritt gegen die Demokratie damit genauso. Das Streikverbot verstoße nicht gegen das Menschenrecht. Jeder kann sich aus diesem Ansatz seine eigene Meinung begründen. Jedoch sind es nicht nur Lehrkräfte, die von solchen Einschränkungen betroffen sind, auch Schüler und Schülerinnen werden bei ihrem Demonstrationsrecht eingeschränkt. Denn demonstrieren dürfen sie nur dann, wenn sie Freizeit haben. Ansonsten dürfen Lehrkräfte unentschuldigte Stunden eintragen. In Deutschland besteht eine Pflicht, die für Arbeitende nicht gilt – die Schulpflicht. Auch darf aufgrund des Fehlens in der Schule eine Ordnungswidrigkeit eingeleitet werden. Für Leistungskontrollen, Klassenarbeiten und Klausuren droht eine Sechs. Einerseits besteht in Deutschland das Recht zum Demonstrieren, ein Grundsatz unserer Demokratie, trotzdem ist dieser Grundsatz für engagierte Schüler und Schülerinnen eingeschränkt. Bereits bei den Fridays-for-Future-Demonstrationen wurde auf diese Einschränkungen seitens der Bildungsministerien zurückgegriffen. Auch die Kultusministerkonferenz sieht in der Schulpflicht den höheren Rang. Warum kommt es denn erst so weit, dass Kinder und Jugendliche sich genötigt fühlen, auf die Straße zu gehen und zu demonstrieren? Das Ganze zeigt die Überforderung und Ratlosigkeit der Bildungspolitik.

Das größte Thema, welches alle Gruppen jedoch verbindet, ist der altbekannte Lehrkräftemangel. Mittlerweile hat sich dieser Begriff und Zustand an den Schulen etabliert. Hinweisen von Lehrkräften, Referendaren und Lehramtsstudierenden geht die Bildungspolitik leider nicht nach. Durch schlechte Bedingungen im Beruf, Referendariat und Studium gehen somit viele motivierte Lehrkräfte verloren.

In den deutschen Schulgesetzen ist die Mitbestimmung der Schüler und Schülerinnen verankert. Fraglich ist jedoch, warum dies in der Praxis nicht umgesetzt wird. Auf die Belange der Kinder und Jugendlichen wird bisher kaum bis gar nicht eingegangen. Während den Jugendlichen in der Schule gelehrt wird, was Demokratie bedeutet und dass Deutschland eine Demokratie ist, wird ihnen bei bildungspolitischen Anliegen das Gegenteil gezeigt. Ein Paradoxon mit weitreichenden Folgen.

Eigene Erfahrungen belegen Problematik

Auch ich als bildungspolitischer Autor habe mit dieser Problematik Erfahrungen gemacht. Als ich vor mehr als zwei Jahren mein erstes Staatsexamen erhielt, war ich sehr motiviert, Lehrer zu werden. Diese Motivation schwand relativ schnell, als ich bemerkte, dass man mich trotz des Lehrkräftemangels nicht an einer Grundschule mein Referendariat absolvieren lassen wollte. Zwei Jahre setzte ich mich ein, hatte Kontakte zu Politik, bildungsnahen Organisationen und Institutionen. Viele Zeitungen berichteten über mich, auch auf lehrernews.de ist mein Erfahrungsbericht komplett und ausführlicher zu lesen. 35 weitere angehende Lehrkräfte befanden sich in derselben Situation, verändert wurde in der ganzen Zeit nichts. Der Berliner Bildungssenat kam immer wieder mit neuen Ausreden. Aufgegeben habe ich, als ich herausfand, dass im Senat nicht die Interessen der Bildungsakteure verfolgt werden, sondern die eigenen. So wurden für die Bildungssenatorin Günter-Wünsch und dem Berliner Bürgermeister Wegner extra Regeln geändert, damit diese eine Beziehung führen können. Dies war der Moment, der mir bewies, wie wenig Mitspracherechte ich als Lehrer habe. Nach meiner dritten Absage habe ich mich letztlich gegen das Referendariat entschieden.

Das Schulsystem steckt in der Krise

Heute stehen wir vor einem annähernd irreversiblen Trümmerhaufen, der Auswirkungen auf die Kinder und Jugendlichen, sowie unserer zukünftigen Wirtschaft und Gesellschaft haben wird. Ein Handeln ist längst überfällig, wenn beachtet wird, dass sich das Schulsystem nicht erst seit gestern in der Krise befindet. Die Schule lehrte uns, was Demokratie ist, die Realität, was Antinomie ist.

Mehr zur Person

Paul Messall
Mehr als 20 Millionen Bildungsakteure leben in Deutschland – das sind ein Viertel der Gesamtbevölkerung. Entweder sind sie als Rezipienten oder als Mitarbeitende Teil des Schulsystems. Umso wichtiger ist die Aufgabe der Bildungspolitik, diesen Bereich vernünftig zu gestalten und weiterzuentwickeln. Aber Überraschung! Nicht immer wird sie dieser Aufgabe gerecht. Wie viele andere Mitwirkende am Schulsystem musste ich häufig Erfahrungen mit fragwürdigen Entscheidungen, Gesetzen und Positionen der Bildungspolitik machen. Oft kommen die zu kurz, die das System Schule und Bildung überhaupt als Ganzes bilden. Auf meiner Expedition von Schule und Abi, über das Lehramtsstudium bis hin zum Bildungsaktivisten, habe ich das Schulsystem in Deutschland von einer anderen, komplexen Seite kennengelernt. Gerade diese Erfahrungen motivieren mich, zum Berichten von Themen, über die meist geschwiegen wird. Ein Dozent sagte damals zu mir: „Sie können sowieso nichts ändern.“ – Das wollen wir doch mal sehen.
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