2,4 Prozent der Schülerinnen und Schüler sind Underachiever (Quelle: @taken, pixabay.de)
Ein Gastbeitrag von Susanne Burzel.
Niemals hätte ich gedacht, dass unser cleveres Kind ohne Schulabschluss dastehen könnte. Dabei wurde ihm in der Grundschule eine überdurchschnittliche Begabung und später mit 16 eine Hochbegabung attestiert. Ich bin Susanne Burzel und Mutter von zwei Söhnen, die mittlerweile 19 und 16 Jahre alt sind. Schon seit Beginn ihrer Schullaufbahn hangelten wir uns von einer Diagnostik zur nächsten, denn das Schulsystem passte nie so recht zu unseren Kindern.
Bereits in der Grundschule fiel unser älterer Sohn durch Verhaltensauffälligkeiten auf. Er störte den Unterricht und wirkte in anderen Momenten apathisch und abwesend. Die morgendlichen Stuhlkreise gerieten zur Geduldsprobe für die ganze Klasse. Schnell wurde ADHS vermutet und die Lehrerin riet uns, die Intelligenz testen zu lassen. Das Ergebnis der klinischen Diagnose: ADHS plus einem IQ von 121. Doch verändert hat sich erst einmal nichts. Im Gegenteil, nach der schleichenden Schulvermeidung in der Mittelstufe folgte ein Zusammenbruch in der 9. Klasse sowie eine sich anschließende zweijährige Schulabstinenz.
Dass man minderbegabte Schülerinnen und Schüler fördern muss, steht außer Frage. Doch wie verhält es sich mit den Hochbegabten? „Die brauchen doch keine Förderung, die kommen schon allein zurecht“, ist der Tenor von vielen. Hochbegabtenförderung hängt immer noch das Stigma von Elitenförderung an. Zudem gibt es in den Medien genug Beispiele von kleinen Genies, die mit 14 Jahren ihr Abitur machen oder mit 17 Jahren bereits ihr Physikstudium abgeschlossen haben. Das ist das Bild, welches die meisten von uns in den Köpfen tragen. Der Trugschluss: Hochbegabung wird allzu oft mit Hochleistung verwechselt.
Daher ist es kein Wunder, dass es mit der widersprüchlich scheinenden Förderung von Hochbegabten in Schulen heute immer noch problematisch aussieht. Bei einer aktuellen Umfrage der Boschstiftung zum Deutschen Schulbarometer 2024 sollten Lehrkräfte den Umfang der Förderangebote an ihrer Schule bewerten. Während die Förderung für leistungsschwache Schülerinnen und Schüler mit 17 Prozent „mangelhaft“ und 4 Prozent für „kein Angebot“ bewertet wurde, werden die Förderangebote für hochbegabte Schülerinnen und Schüler mit 27 Prozent als „mangelhaft“ und ebenfalls 27 Prozent für „kein Angebot“ eingeschätzt. Diese Diskrepanz ist erschreckend und sollte wachrütteln. Hier besteht dringend Handlungsbedarf für ein „allseits gerechtes Bildungssystem“, wie es die Karg-Stiftung in ihrem Auftrag formuliert. Denn viele Hochbegabte fallen durchs Raster und drohen in der Schule zu scheitern.
Sicher gibt es viele hochbegabte Kinder und Jugendliche, die ohne Probleme die Schulzeit durchlaufen. Manche ahnen noch nicht einmal, dass sie hochbegabt sind. Sie können sich anpassen, schreiben gute Noten und kommen insgesamt gut zurecht. Doch dann gibt es den kleinen, aber nicht zu vernachlässigenden Teil an Hochbegabten, die sich nicht anpassen können. Sie hinterfragen Unterrichtsinhalte, lehnen Wiederholungen ab und versagen bei den einfachsten Aufgaben, während sie bei den schwierigen plötzlichen Höchstleistungen erbringen. Zudem können sie Zusammenhänge sehr gut herleiten. Im Matheunterricht finden sie beispielsweise alternative Rechenwege und weichen vom vorgegebenen Lösungsweg ab. Dank ihres schnellen Denkens sind sie dann möglicherweise nicht mehr in der Lage, den Rechenweg zu notieren und schreiben lediglich das Ergebnis in die Klassenarbeit.
Doch das Dilemma beginnt oft schon in der Grundschule. Hoch motiviert kommen die Kinder in die erste Klasse in der freudigen Erwartung, endlich etwas Richtiges zu lernen. Doch das meiste fällt ihnen zu und sie müssen sich wenig anstrengen, um die Aufgaben zu erfüllen. Sie erleben Langeweile und fühlen sich ausgebremst.
Normalerweise wird das schulische Anforderungsniveau etwas höher als die vorhandenen Fertigkeiten angesetzt. Strengt sich ein Schüler an und löst die Aufgabe, erlebt er ein Glücksgefühl. Das motiviert ihn, auch die nächste Aufgabe anzugehen. Nicht so bei vielen hochbegabten Kindern. Sie verspüren erst gar keine Erfolgserlebnisse, weil ihnen alles zufällt oder sie einfach schnell nebenbei lernen.
Als Ausgleich beginnen sie zu träumen oder fallen durch Verhaltensauffälligkeiten negativ auf. Die Eigenmotivation sinkt und ihr Leidensweg beginnt. Das Kind wird unter Umständen pathologisiert, wobei Fehldiagnosen eine schlimme Folge sein können. Dabei ist das hochbegabte Kind meist einfach nur unterfordert.
Die beschriebene Situation ist ein typisches Beispiel eines Underachievements. Was mit Minderleistung übersetzt wird, bedeutet, dass die Kinder ihr Potenzial nicht vollständig abrufen können. Sie resignieren in ihren hohen Ansprüchen und ihrem Perfektionismus. Darunter leidet auch ihr Selbstwert, sozial-emotionale Schwierigkeiten begleiten oftmals die Symptomatik. Das Institut für Leistungsentwicklung spricht von einer Underachiever-Quote von 15 Prozent unter den Hochbegabten.
Auch unser älterer Sohn war davon betroffen. Nach zahlreichen Diagnostiken auf ADHS und Asperger (ASS) verweigerte er eines Morgens komplett die Schule. In Schockstarre saß unser 15-Jähriger auf seinem Bett und sagte: „Ich will ja in die Schule gehen, aber ich kann nicht“. Für uns Eltern brach zunächst eine Welt zusammen. Niemand wusste, wie wir ihm helfen konnten. Schließlich stieß ich auf den Begriff des Underachievements. Üblicherweise hängt dieser mit Hochbegabung zusammen, doch unser Sohn fiel bisher nicht darunter.
Eine Begabungsdiagnostik klärte auf. Er war mittlerweile 16 Jahre alt als seine Hochbegabung getestet wurde. In einem Bereich kratzte er sogar an der Höchstbegabung. Endlich hatten wir die Erklärung und die Bestätigung, doch es war zu spät. Seine Motivation, die Schule zu besuchen, war vollends verschwunden. Dieser Zustand zog sich ganze zwei Jahre hin.
Hochbegabung beginnt ab einem IQ von 130, der durchschnittliche IQ beträgt 100. Dazwischen liegt die überdurchschnittliche Begabung zwischen IQ 115 und IQ 129. Die Psychologin Andrea Brackmann sowie viele weitere Forscher gehen davon aus, dass die typischen Eigenschaften von Hochbegabung bereits mit einer überdurchschnittlichen Begabung auftreten können.
Ein Rechenbeispiel veranschaulicht, wie viele Kinder von einem Underachievement betroffen sind. In einer Stadt mit 280.000 Einwohner gibt es ca. 25.000 Schülerinnen und Schüler. 13,9 Prozent davon sind überdurchschnittlich begabt und 2 Prozent hochbegabt, also fallen 4.000 in diese Kategorie. Davon sind wiederum 15 Prozent, also ca. 600, vom Underachievement betroffen. Um ihr Potenzial zu bewahren und ihre Eigenmotivation zu stärken, ist eine Förderung unabdingbar.
Mittlerweile haben wir für unseren Sohn einen Weg gefunden. Er hat seinen Realschulabschluss an der einzigen Förderschule für Hochbegabte in Offenbach nachholen können. Dafür haben wir lange gekämpft. Um anderen Eltern Mut zu machen und Verantwortliche für das Thema zu sensibilisieren, habe ich unsere Erfahrungsgeschichte in einem Buch zusammengefasst.
Was bleibt also zu tun? Ich denke, Lehrkräfte bedürfen einer Anleitung oder Schulung, wie sie eine besondere Begabung erkennen, um Fehldiagnosen zu vermeiden. Das sollte bereits im Studium ein Pflichtanteil sein. Nur dann können die richtigen Schritte eingeleitet und wegweisende Empfehlungen ausgesprochen werden. Eine frühe Begabungsdiagnostik kann dank eines Gutachtens Anregungen geben, das Kind potenzialorientiert zu fördern.
Susanne Burzel erzählt in ihrem dritten Buch „Hochbegabt gescheitert – und neue Türen öffnen sich“ ihre Erfahrungsgeschichte als Mutter von zwei hochbegabten Kindern. Diese verweigerten teilweise bis zu 2 Jahren die Schule und gehören zu den sogenannten Underachievern (Minderleister).
Sie möchte Eltern Mut machen und Verantwortlichen den Blick öffnen für die besonderen Herausforderungen mit hochbegabten Kindern, die nicht in das Schulsystem zu passen scheinen.
In den letzten 20 Jahren beschäftigte sie sich intensiv mit Hochbegabung, Hochsensibilität, Fehl- und Doppeldiagnosen sowie den Grenzen im staatlichen Schulsystem. Mit großer Kraftanstrengung überwand sie zahlreiche Hürden und schaffte es, neue Wege zu finden, um ihren Kindern einen guten Start in ein eigenverantwortliches Leben zu ermöglichen.
Susanne Burzel führt seit über 12 Jahren ihre eigene Werbeagentur und profitiert von einer vielfältigen Erfahrung (Grundschullehramt, Diskothek, Werbekauffrau, Dipl. Betriebswirtin, Dirigentin, Autorin, Podcasterin). Sie entdeckte ihre eigene Hochbegabung erst vor kurzer Zeit.