Das Denkmal für die ermordeten Juden Europas in Berlin. (Quelle: Pixabay)
In unserem ersten Artikel zur Projektwoche Nationalsozialismus haben wir euch Formate und Informationsquellen vorgestellt, die den komplexen und sensiblen Themenkomplex des Nationalsozialismus für den Unterricht zugänglich machen sollen. Heute möchten wir einen Schritt weiter gehen und uns mit der Frage beschäftigen, wie ihr die Themen Judenverfolgung und Holocaust vermitteln könnt.
Geschichtliches Wissen erfüllt einerseits den Zweck, die Vergangenheit zu verstehen und aus Fehlern zu lernen, um sie nicht zu wiederholen. Andererseits dient es auch dem Gedenken an die Opfer und dem Bewahren ihrer Erinnerung. In Schulen kommt der Vermittlung dieses Wissens eine zentrale Rolle zu, jedoch gestaltet sich gerade die Auseinandersetzung mit dem Holocaust oft schwierig. Die massive Zahl von Opfern und die Grausamkeit der Ereignisse machen es den Schüler:innen schwer, die Tragweite dieser Geschehnisse zu begreifen. Zudem führen Bilder von Leichenbergen oft zu Abwehrreaktionen statt Empathie. Lehrkräfte stehen zudem vor der Herausforderung, dem gesellschaftlichen Desinteresse an diesem Thema entgegenzuwirken, das häufig auf die belastende Natur des Lernstoffs zurückzuführen ist.
Bei der Vermittlung sensibler Themen wie dem Holocaust ist es entscheidend, einen einfühlsamen und respektvollen Ansatz zu wählen. Ihr solltet euch bewusst sein, dass Schüler:innen persönliche Verbindungen zu diesen Themen haben könnten. Daher ist es wichtig, einen sicheren Raum zu schaffen, in dem die Klasse offen über ihre Gedanken und Gefühle sprechen kann, ohne Angst vor Vorurteilen oder Diskriminierung. Darüber hinaus sollte die Vermittlung historischer Fakten mit einer reflektierten Auseinandersetzung über die Ursachen, Auswirkungen und Lehren aus dieser dunklen Periode der Geschichte einhergehen. Angesichts der psychischen Belastung, die mit der Vermittlung von Themen wie dem Holocaust einhergeht, sollten Lehrkräfte besonders aufmerksam vorgehen. Es ist wichtig, dass ihr den emotionalen Zustand eurer Schüler:innen genau beobachtet und auf Anzeichen von Stress, Trauer oder Unwohlsein achtet. Im Falle von starken emotionalen Reaktionen sollten Lehrkräfte auch die Hilfe von Schulpsycholog:innen in Anspruch nehmen, um ihren Schüler:innen die bestmögliche Unterstützung zu bieten.
Laut der internationalen Holocaustgedenkstätte Yad Vashem ist es entscheidend, auch die Vielfalt jüdischer Lebenswelten vor, während und nach dem Holocaust zu verstehen. Vor dem Holocaust war die jüdische Bevölkerung integraler Bestandteil europäischer Gesellschaften und trug aktiv zu diesen bei. Die Geschichte europäischer Juden ist daher nicht allein durch Opfererfahrungen geprägt, sondern umfasst auch ihre kulturellen, politischen und sozialen Beiträge. Während dieser Epoche erlebten Juden eine dramatische Veränderung ihrer Lebensbedingungen, beginnend mit der nationalsozialistischen Machtergreifung und der systematischen Ausgrenzung und Verfolgung. Die Versuche, ein normales Leben aufrechtzuerhalten, wurden durch immer strengere Repressionen und Einschränkungen erschwert. Existenzielle Dilemmata waren oft von aussichtslosen Alternativen geprägt, wie der schweren Entscheidung zwischen Emigration und Verbleib in der Heimat. Nach der Befreiung war das Leben für Überlebende geprägt von der Realisierung des Verlustes und der Bewältigung traumatischer Erinnerungen. Trotzdem versuchten viele, einen Neuanfang zu machen und ein neues jüdisches Leben aufzubauen, was als persönlicher Triumph empfunden wurde. Jüdisches Leben ist mehr als der Holocaust. Es umfasst eine reiche Geschichte, kulturelle Vielfalt und bedeutende Beiträge zur Gesellschaft, die über das Trauma des Holocaust hinausreichen.
Dem Konzept der altersgemäßen Entfaltung des Lernstoffes Holocaust von Yad Vashem zufolge erfordert eine frühe Erstbegegnung mit dem Thema Holocaust einen einfühlsamen Zugang auf mehreren Ebenen. Empathie sei hierbei von zentraler Bedeutung, wobei es wichtig ist, sie von Identifikation zu unterscheiden. Dies ermögliche den Lernenden, die Emotionen anderer zu verstehen, ohne sich komplett in sie hineinzuversetzen. Eine sorgfältige Materialauswahl, die biografische Narrationen eines Individuums einbezieht und positive Aspekte der Geschichten hervorhebt, fördere diese empathische Lernhaltung. Zudem sei es wichtig, den Schüler:innen Selbstschutz, Historizität und Handlungskompetenz als Ziele eines immanent-historischen Lernens zu vermitteln.
Authentische Zeitzeugennarrationen ermöglichten es den Lernenden, die Verbindung zwischen Vergangenheit und Gegenwart zu erkennen und sich für ihre eigene Handlungskompetenz zu sensibilisieren. Darüber hinaus biete die Auseinandersetzung mit historiografischen Grundlagen die Möglichkeit, den Konstruktionscharakter von Geschichtserzählungen zu verstehen. Insgesamt ermöglicht eine sorgfältige Materialauswahl und die Gewährung von Autonomie den Schüler:innen, sich empathisch mit dem Thema Holocaust auseinanderzusetzen und einen tieferen Einblick in die historischen Ereignisse zu gewinnen. Dies fördert nicht nur ihr historisches Verständnis, sondern stärkt auch ihre Fähigkeit zur empathischen Reflexion und kritischen Analyse – wichtige Kompetenzen für eine umfassende historische Bildung.
Der Zeitpunkt, ab dem man mit Kindern und Jugendlichen über den Nationalsozialismus und den Holocaust sprechen sollte, ist oft eine komplexe Frage, die sorgfältige Überlegung erfordert. Das Deutsche Schulportal hat im November 2020 eine Umfrage “Ab welcher Klassenstufe sollte der Holocaust Thema in der Schule sein?” durchgeführt. Dabei wurden 90 Antworten ausgewertet, die meisten Befragten sprachen sich dabei für eine Thematisierung in der Schule ab der 5. Klasse aus. In den allermeisten Schulen wird das Thema Nationalsozialismus erst in der Sekundarstufe I ausführlich behandelt.
Nationalsozialismus und Holocaust sind in allen Bundesländern im Fach Geschichte bzw. – je nach Länderregelung – in gesellschaftswissenschaftlichen Fächern mit einem hohen Anteil an Geschichte fest verankert und verpflichtender Unterrichtsgegenstand in den Jahrgangsstufen 9 oder 10, vereinzelt auch Jahrgangsstufe 8. In der Regel verlässt demnach kein:e Schüler:in die Schule, ohne etwas über dieses Kapitel deutscher Geschichte erfahren zu haben. Hinzu kommt, dass das Thema auch in anderen Unterrichtsfächern des Sekundarbereichs I, insbesondere in Deutsch und Religion/Ethik mit einer fachspezifischen Schwerpunktsetzung besprochen wird. Im Sekundarbereich II sind Nationalsozialismus und Holocaust in einer vertiefenden und größere Zusammenhänge aufzeigenden Weise abermals verpflichtender Unterrichtsgegenstand.
Im Interview mit dem Deutschen Schulportal betonte Benjamin Stello, Geschichtslehrer und Landesfachberater für Geschichte des Instituts für Qualitätsentwicklung an Schulen Schleswig-Holstein, die Bedeutung einer ganzheitlichen Herangehensweise. Er erklärte, dass die Zielsetzung des Geschichtsunterrichts darin bestehe, dass Schüler:innen aus der Vergangenheit für die Zukunft lernen sollten. In Bezug auf den Holocaust sei es wichtig, dass sie zu toleranten Menschen werden, die demokratische Werte achten. Allerdings dürfe dies nicht mit einem “erhobenen Zeigefinger” geschehen, sondern die Jugendlichen müssten sich ihre eigenen Meinungen bilden. Stello betonte, dass sowohl ein affektiver als auch ein kognitiver Zugang zur Thematik wichtig sei, da ein rein emotionaler Zugang zur Überwältigung führen könne.
Die Frage nach dem geeigneten Alter für die Auseinandersetzung mit dem Holocaust ist laut Stello eng mit der Entwicklung von moralischem Differenzierungs- und Urteilsvermögen verbunden. Entwicklungspsychologisch sei dies gewöhnlich erst in der frühen Adoleszenz möglich, was im Schnitt etwa der achten Klasse entspricht. Auch die Fähigkeit des Perspektivwechsels sei erst in diesem Alter umfassender möglich. Stello erklärte jedoch, dass es möglich sei, auch mit jüngeren Kindern über den Holocaust zu sprechen, wenn sie mit dem Thema in Berührung kommen und Fragen stellen. Dennoch halte er es nicht für zielführend, das Thema bereits wesentlich früher im Unterricht zu behandeln, da jüngere Kinder oft Schwierigkeiten hätten, die Informationen zu verarbeiten und Schlüsse daraus zu ziehen.
Der Transfer von Erkenntnissen aus der Geschichte auf aktuelle politische Situationen, insbesondere in Bezug auf Antisemitismus, sei laut Stello von großer Bedeutung. Er betonte jedoch, dass der Geschichtsunterricht allein nicht ausreiche, um Antisemitismus zu bekämpfen. Es sei wichtig, sich in der Schule kontinuierlich mit Strukturen von Diskriminierung auseinanderzusetzen und nicht nur einen kurzen Abschnitt über den Nationalsozialismus zu behandeln.
Der Zugang zum Thema Holocaust sollte nach Ansicht von Sylvia Löhrmann, Lehrerin und frühere Bildungsministerin von Nordrhein-Westfalen, vor allem durch "empathisches Erinnern ohne erhobenen Zeigefinger" geprägt sein, da ein emotionaler Zugang zur Geschichte viel nachhaltiger wirke. Sie betonte im Interview gegenüber dem Deutschen Schulportal, dass es wichtig sei, den jungen Menschen emotionale Zugänge zu den Geschehnissen der Vergangenheit zu eröffnen. Dabei können verschiedene Wege beschritten werden, wie zum Beispiel der Besuch einer Gedenkstätte, das Forschen über Opfer des Holocaust im eigenen Ort oder die Auseinandersetzung mit Zeitzeugnissen. Löhrmann hebt hervor, dass auch die Digitalisierung viele Möglichkeiten bietet, Jugendliche zu "Zweitzeugen" zu machen, indem sie sich mit den historischen Ereignissen auseinandersetzen und dazu Stellung beziehen. Dies sei besonders in Zeiten, in denen kaum noch Zeitzeugen vorhanden seien, wichtig.
Die Erinnerungskultur sollte aus Sicht von Löhrmann auch eine historische und politische Einordnung beinhalten, indem nach den Ursachen und den damaligen gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Umständen gesucht wird. Dabei wäre es wichtig, den Jugendlichen zu vermitteln, dass sie zwar nicht für die Vergangenheit verantwortlich sind, aber als Demokrat:innen dafür verantwortlich sind, dass sich solche Ereignisse nicht wiederholen. Sie betont, dass die Erinnerungskultur altersgemäß die ganze Schullaufbahn hindurch eine Rolle spielen sollte, da sie eine Daueraufgabe von Schule ist und nötiger denn je sei.
Letztendlich ist die Wahl des Ansatzes, sei es affektiv, kognitiv oder emotional, den Lehrkräften überlassen. Wie so oft ist eine Mischung aus verschiedenen Zugängen sinnvoll, die auch vom eigenen Unterrichtsstil und natürlich der Klasse abhängt.
Basierend auf verschiedenen Umfragen lässt sich feststellen, dass die Behandlung des Holocaust an deutschen Schulen kontrovers beurteilt wird. Eine Befragung von 2018 zeigt, dass nur 19 Prozent der Befragten der Meinung sind, dass der Holocaust voll und ganz ausreichend behandelt wird, während 31 Prozent angaben, dass er teilweise ausreichend behandelt wird. Dem gegenüber stehen 27 Prozent, die dies verneinen, und 9 Prozent, die angeben, dass der Holocaust überhaupt nicht ausreichend behandelt wird. 14 Prozent der Befragten gaben an, dazu keine klare Meinung zu haben.
Eine weitere Umfrage aus dem Jahr 2021/2022 zeigt, dass sich die Einschätzung des eigenen Wissens über die Zeit des Nationalsozialismus unter den Befragten stark unterscheidet. Während 15,4 Prozent angaben, sehr gut informiert zu sein, und 43,4 Prozent ihr Wissen als eher gut einschätzten, gab es auch 10,4 Prozent, die eher nicht gut informiert seien, und 4,3 Prozent, die angaben, überhaupt nicht gut informiert zu sein.
Eine Umfrage unter der Generation Z zeigt ähnliche Ergebnisse, wobei 10 Prozent angaben, sehr gut informiert zu sein, und 40 Prozent ihr Wissen als eher gut einschätzten. Die Einschätzungen über den Umfang des gelernten Materials über die Zeit des Nationalsozialismus in der Schule variieren ebenfalls stark.
Wir hoffen, dass dieser Artikel einige wichtige Fragen zum Umgang mit dem Thema Holocaust im Schulunterricht beantwortet hat, auch wenn wir uns bewusst sind, dass dieses Thema viel zu komplex ist, um vollständig in einem Artikel behandelt zu werden. Wie empfindet ihr den aktuellen Umgang mit dem Holocaust im Schulunterricht und welche Verbesserungsvorschläge habt ihr?
Welche weiteren Fragen stellen sich für euch im Zusammenhang mit der Vermittlung des Holocausts in Schulen? Gibt es bestimmte Aspekte, die noch nicht behandelt wurden und die ihr gerne näher beleuchtet sehen würdet? Wir laden euch herzlich ein, eure Gedanken und Perspektiven in den Kommentaren zu teilen und damit zu einer weiteren Diskussion und vielleicht weiteren Artikeln beizutragen.