Überschuss oder überschnelle Entwarnung? Die Chancen und Gefahren von Prognosen zum Lehrkräftemangel

Ein Lehrer steht vor seiner Klasse, auf einem Bildschirm wird eine bunte Auswertung gezeigt

Was ist von den Prognosen über den Personalbedarf an Schulen zu halten? (Quelle: Pixabay)

Ein Gastbeitrag von Paul Messall, der bereits zum Thema Lehrer werden bei uns publiziert hat.

Viele Jahre prägt der Lehrkräftemangel bereits unser Schulsystem. Unterrichtsausfälle, geringe Unterrichtsqualität, viel zu große Klassen und Defizite bei den Schüler:innen sind nur ein Bruchteil der etlichen Folgen. Für viele sorgte die Prognose der Bertelsmann-Stiftung für ein Aufatmen: Bis 2035 soll der Lehrkräftemangel an den Grundschulen vorbei sein, sogar einen „Überschuss“ an Lehrkräften soll es geben. Die Medien überschlugen sich mit euphorischen Berichten zu dem Ende der lang andauernden Misere. Es klingt doch fast zu schön, um wahr zu sein. Dass dabei andere Prognosen und die Gefahren der einseitigen Berichterstattung außen vor gelassen werden, wird kaum berücksichtigt.

Für das Jahr 2025 berechnete die Bertelsmann-Stiftung in ihrer Prognose einen Mangel von rund 35.000 ausgebildeten Lehrkräften. Nach all den Jahren, in denen der Lehrkräftemangel unser Schulsystem prägte, klingt es schon fast unvorstellbar: In ihrer aktuellen Prognose berechnet sie für das Jahr 2035, dass an den Grundschulen rund 45.000 Lehrkräfte über den Bedarf zur Verfügung  stehen. Der unvorteilhafte Begriff dazu: Lehrkräfte-Überschuss – wie das letzte Brötchen in der Frischbacktheke, welches keiner haben will. Wenn man unsere heutige Bildungssituation betrachtet, kann dann von einem „Lehrkräfte-Überschuss“ die Rede sein?

Jede Lehrkraft, die über den Bedarf hinaus zur Verfügung steht, sollte doch nach all den Jahren des Lehrkräftemangels als Chance und nicht als Überschuss gewertet werden. Dirk Zorn, Mitaufsteller der Prognose, brachte dies bereits zum Ausdruck. Mehr Lehrkräfte bedeuten auch mehr Entlastung für das pädagogische Lehrpersonal an den Schulen. Auf einem Demonstrationsplakat stand vor einiger Zeit: „Wir wollen kleinere Klassen!“. Derzeit lernen rund 20 bis 30 Kinder in einer Klasse gemeinsam, teilweise sogar jahrgangsübergreifend. Bekannt und belegt ist mittlerweile, dass kleinere Klassen zu besseren Leistungen führen können. Nach dem PISA-Schock des letzten Jahres wäre dies bereits ein kleiner Lichtblick.

Doch gehen wir einmal davon aus, dass sich zu guter Letzt etwas ändert. Die Kinder lernen in kleinen Klassen, die eher Lerngruppen entsprechen, die Lehrkräfte können individuell auf die Kinder eingehen und den Unterricht differenzieren, kein Kind muss eine zweistündige Anfahrt zur Schule auf sich nehmen und die Lehrkräfte unterrichten weniger Stunden, wodurch sie mehr Zeit dafür haben den Unterricht lernförderlich und qualitativ vorzubereiten.

Auch das jahrgangsübergreifende Lernen, also der Unterricht mehrerer Jahrgänge in einer Klasse, könnte damit optimiert und für Personal sowie Kinder angenehmer werden. Es ist jedoch fraglich, wie die Bildungsministerien mit der prognostizierten Zunahme der Grundschullehrkräfte umgehen werden. Sollen aus drei großen Klassen drei kleine Klassen werden? Oder wird nur die Anzahl an Klassen verringert und aus drei großen Klassen werden zwei große Klassen mit derselben Anzahl an Schüler:innen? Diese Frage steht dabei noch offen im Raum.

Mit mehr Lehrkräften könnten kapazitätsabhängig sogar noch kleinere Klassen entstehen, in denen sich die Lehrkraft auch auf die einzelnen Lernenden konzentrieren kann. Dann hätten Lehrkräfte wenigstens wieder die Möglichkeit, allen Lernenden die richtige Rechtschreibung zu lehren. Denn eine korrekte Orthografie ist nicht so überflüssig, wie es die Politik derzeit relativieren mag. Jede Lehrkraft über den Bedarf hinaus bedeutet ein Potenzial, den exponentiell abnehmenden Förderunterricht an den Schulen zu expandieren. Nach dem letzten PISA-Schock sollte dies eine vernünftige Maßnahme sein, um die Kinder und Jugendlichen besser auf die Zukunft vorzubereiten. Denn wir sehen schließlich einen Baum und nicht ein Baum – in den sozialen Medien fallen orthografische Rechtschreibfehler häufig auf.

Eine weitere Entlastung, vorrangig für die Lehrkräfte, wäre die Senkung der abzuhaltenden Unterrichtsstunden. Anfang des Jahres rief die Einführung einer zusätzlichen Unterrichtsstunde für Lehrkräfte in Sachsen-Anhalt ein großes Medienecho mit sich. Bis vor Gericht sahen sich die überrumpelten Lehrkräfte gezwungen zu gehen, wo sie letztlich unterlagen.  Eine häufige Begleiterkrankung bei Lehrkräften ist Burnout, was langfristig zu Demotivation und sinkender Unterrichtsqualität führt. Nicht zu vergessen ist die damit einhergehende gesundheitliche Einschränkung vieler Lehrkräfte. Die hohe Teilzeitquote zeigt in gewissem Maße, wie die Lehrkräfte überlastet sind. Je mehr Lehrkräfte zukünftig zur Verfügung stehen, desto mehr Möglichkeiten bestehen, diese zu entlasten.

Jedoch werden die Wünsche der Bildungsakteure gerne von der Bildungspolitik abgetan, oft von ehemaligen Lehrkräften, die vor rund dreißig Jahren das letzte Mal vor einer Schulklasse standen. Dass die heutige Situation an Schulen dabei ganz anders aussieht, wird wieder übersehen. Die Lernenden haben sich verändert, gar weiterentwickelt, was im Unterricht beeinflusst und nicht ignoriert werden sollte. Eine Optimierung des Schulsystems in den nächsten zehn Jahren scheint daher sowieso leider unwahrscheinlich.

Ein großes Thema ist derzeit die Inklusion an den Schulen. Förderschulen werden ersatzlos geschlossen und die Lernenden auf normale Grundschulen und weiterführenden Schulen verteilt. Die Idee der Inklusion hört sich zunächst vielversprechend an, die Umsetzung mangelt jedoch. Bezugserzieher:innen und geschultes sonderpädagogisches Personal fehlen meist an den Regelschulen. Fast könnte angenommen werden, dass Inklusion für die Bildungspolitik ein trostloser Versuch ist, den Lehrkräftemangel zu mindern, da die Klassen noch größer werden und die Schulen weniger. Um eine funktionierende Inklusion voranzutreiben werden Lehrkräfte benötigt. In einer Klasse mit fast 30 Kindern, davon einige mit verschiedenen Behinderungen und einige ohne Sprachkenntnisse, kann Inklusion wie auch Integration ohne zusätzliches Personal nicht funktionieren, ohne dass einige Kinder benachteiligt werden. Es sei denn, die Klassen werden verkleinert, sodass die Lehrkraft auf eben diese Kinder spezifischer eingehen kann. Jede zusätzliche Lehrkraft wäre dazu ein wahrer Segen, die Möglichkeiten wären vielfältig.

Auch die für 2026 geplante flächendeckende Einführung des Ganztags an Grundschulen, benötigt Personal. Neben Erzieher:innen und Sozialarbeiter:innen werden im Ganztag dringend Lehrkräfte gebraucht. Der Ganztag bietet unter anderem die Weiterförderung der Kinder, apropos Förderunterricht.

Selbstredend darf nicht vergessen werden, dass der Lehrkräftebedarf regional weiterhin sehr unterschiedlich sein wird. Das bedeutet, Lehrkräftemangel wird es in Teilen Deutschlands an der Grundschule weiterhin geben, sodass auf Seiten- und Quereinsteiger zurückgegriffen wird, darauf macht die Bertelsmann-Stiftung ebenso aufmerksam. In vielen Berichterstattungen wurde dieser wichtige Punkt ausgelassen.

So erleichternd die Prognose der Bertelsmann-Stiftung klingen mag, können andere Prognosen nicht einfach ignoriert werden. Andere Prognosen zum Lehrkräftemangel im Jahr 2035 widersprechen der Bertelsmann-Stiftung zum Teil um ein Vielfaches. Das Forschungsinstitut für Bildung und Sozioökonomie (FIBS) geht beispielsweise davon aus, dass 2035 rund 16.000 Lehrkräfte an den Grundschulen fehlen werden. Bei der Optimierung des Schulsystems, beispielsweise durch kleinere Klassen, mehr Schulen oder der flächendeckenden Einführung von Förderunterricht soll sich diese Zahl sogar verschärfen. Dies wäre eine Differenz von 61.000 Lehrkräften zu der Prognose der Bertelsmann-Stiftung. Auch das FIBS geht von der Ist-Situation der letzten Jahre aus, der Mangel an Lehrkräften wäre also bei Optimierung des Schulsystems noch höher.

Übertragen würde die FIPS-Prognose bedeuten, dass die Lehrkräfte für kleinere Klassen, mehr Schulbau, Ganztag usw. noch zusätzlich zu den 16.000 Lehrkräften fehlen würden. Durch die einseitige Berichterstattung zur Prognose der Bertelsmann-Stiftung besteht sogar die Gefahr, dass sich noch mehr junge Abiturient:innen gegen diesen Beruf entscheiden, ganz nach dem Motto: „Die Jobaussichten sind mir zu unsicher.“ Der Druck während des Studiums würde erneut steigen, da nur diejenigen später in kurzer Zeit einen Referendariatsplatz und Job erhalten, die Bestnoten erzielen. Wir befanden uns bereits in einer ähnlichen Situation und wir sehen, wo wir jetzt stehen. Langfristig gingen dadurch unzählige potenzielle Grundschullehrkräfte verloren, da sie bereits vor dem Studium abgeschreckt werden. All diese potenziellen Lehrkräfte fehlen, vielleicht erst weit nach 2035, aber sie fehlen. Nur wenige Medien ergründeten in Ihrer Berichterstattung die Maßstäbe der Berechnung der Prognose, meist wurde alleine davon berichtet, dass der Lehrkräftemangel bald vorbei sei, ohne die Chancen hervorzuheben.

Die Kultusministerkonferenz geht hingegen von einer knappen Bedarfsabdeckung aus, gut 6.300 Lehrkräfte sollen im Plus stehen. Die Anzahl der Lernenden an den Grundschulen soll leicht von 3 Mio. auf rund 3,1 Mio. Kinder anwachsen. Als Basis für Ihre Prognose nutzte die Bertelsmann-Stiftung ebenso die prognostizierte Schülerzahl der Kultusministerkonferenz von 3,1 Mio. Da die KMK mit ihrer Geburtenprognose für die Jahre 2022 und 2023 jedoch über der Anzahl der tatsächlichen Geburten lag, wurde dies jedoch für die Prognose umgerechnet.

Doch woher kommen überhaupt diese übermäßigen Differenzen? Gemeinsam haben die drei genannten Prognosen, dass sie nach dem Ist-Zustand, also der aktuellen Situation, entsprechend berechnet wurden. Jedoch gehen alle Institute von unterschiedlichen Entwicklungen der Geburtenrate und Bevölkerungsentwicklung aus. Während die Bertelsmann-Stiftung von einer Abnahme ausgeht, geht das FIBS von einer Zunahme aus. Das FIBS hat bereits die frühe Pensionierung vieler Lehrkräfte einberechnet, die Bertelsmann-Stiftung nicht. Das Statistische Bundesamt geht weiterhin davon aus, dass sich drei verschiedene Szenarien entwickeln könnten: Zunächst soll die Geburtenrate abnehmen, danach könnte sie weiter sinken, auf ein Mittelmaß ansteigen oder sogar deutlich zunehmen. Jedoch betont das Statistische Bundesamt, dass es sich hierbei um keine Vorhersage handelt, sondern wie bei jeder anderen Prognosen auch, lediglich um Annahmen.

Die abweichenden Zahlen sollten dazu anregen, sich nicht zu sehr auf einzelne Prognosen zu verlassen. Wir wissen nicht, was uns in Zukunft erwartet. 2035 ist noch elf Jahre entfernt, ein großer Zeitraum, in dem viel passieren kann. Rechnen wir von heute elf Jahre zurück, finden wir uns im Jahr 2013 wieder – jeder kann jetzt für sich überlegen, was ab 2013 das Schulsystem sowie den Lehrkräftemangel beeinflusst hat.

Eine Kritik soll dieser Artikel selbstverständlich nicht darstellen, da jede Prognose sinnvolle und nachvollziehbare Berechnungsgrundlagen aufzeigt. Eines steht jedoch fest: Unerheblich, welche der zahlreichen Prognosen sich bewahrheitet, die letzten Jahre, in denen der Lehrkräftemangel das Schulsystem signifikant prägte, sollten uns lehren, dass jede Lehrkraft wichtig ist und keine Lehrperson als Überschuss gelten sollte. Um das Schulsystem, soweit dies noch möglich ist, zu optimieren, brauchen wir Lehrkräfte – gut ausgebildete Lehrkräfte. Denn ein optimiertes Schulsystem ist für die Zukunft unserer Gesellschaft und ebenso Wirtschaft unabdinglich. Erst wenn die Bildungspolitik dies erreicht hat, können wir wirklich aufatmen und sagen: „Der Lehrkräftemangel ist bald vorüber!“

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