Buchrezension: Mein ängstliches Kind – In 7 Schritten den Sorgenkreislauf durchbrechen und mutige, unabhängige Kinder erziehen

Viele Eltern verzweifeln, wenn ihr Kind Angstzustände zeigt, die das ganze Familienleben beeinträchtigen. (Quelle: Canva)

Alle Kinder machen sich Sorgen. Sie fragen sich, ob sie ihr Referat halten können, ohne zu stottern, ob sie ohne Heimweh zu bekommen bei einem Freund übernachten können, oder wie sie in einer neuen Schule Freunde finden werden. Und genauso machen sich auch die Erwachsenen im Leben eines Kindes Sorgen: Ist es wirklich sicher, wenn meine Tochter alleine mit der S-Bahn zur Schule fährt? Kommt er mit den schulischen Anforderungen zurecht, oder sollte er lieber auf eine andere Schule wechseln? Solche Ängste sind normal und sogar gesund, denn es ist genau diese nervige Angst, die uns zur Flucht drängt, wenn ein großer Hund auf uns zugelaufen kommt, oder uns die sekundenschnelle Reaktionsfähigkeit gibt, den Lenker umreißen, wenn wir mit dem Fahrrad auf einer eisigen Straße ausrutschen. Aber was tun, wenn Kinder bei alltäglichen Aktivitäten, wie zum Beispiel dem Schulbesuch oder einem Treffen mit Freunden, eine scheinbar übertriebene Ängstlichkeit aufweisen? Was tun, wenn solche Angstzustände das Leben des Kindes, seiner Eltern oder sogar seiner ganzen Familie negativ beeinflussen und bestimmen? 

Genau diesen Familien möchten die Autoren von “Mein ängstliches Kind: In 7 Schritten den Sorgenkreislauf durchbrechen und mutige, unabhängige Kinder erziehen” helfen. Dr. Reid Wilson ist Direktor des Anxiety Disorder Treatment Center in North Carolina und führt die kostenlose Selbsthilfe-Website anxieties.com. Lynn Lyons hat sich in ihrer privaten psychotherapeutischen Praxis in New Hampshire auf die Behandlung von Kindern, die unter Angstzuständen leiden, und deren Eltern spezialisiert. Beide Experten sind selbst Eltern und haben zusammen 50 Jahre Erfahrung in der Arbeit mit ängstlichen Kindern und deren Familien gesammelt. Das englische Original “Anxious Kids, Anxious Parents” erschien bereits 2013, nun ist das Buch erstmals in deutscher Sprache zu lesen. 

"Mein ängstliches Kind" erschien 2023 im Mankau Verlag erstmals in deutscher Sprache. (Quelle: Mankau Verlag)

Wilson und Lyons plädieren bei der Behandlung von ängstlichen Kindern für eine holistische Herangehensweise, die auch die Eltern stark einbezieht. Denn: Studien haben gezeigt, dass ängstliches Verhalten in Kindern durch die Maßnahmen von Eltern, die eigentlich nur helfen wollen, oft verstärkt wird. Wenn ein Kind sich aus Angst, mit fremden Menschen auf engstem Raum zu sitzen, weigert, mit dem Bus zur Schule zu fahren, geben viele Eltern schnell nach und fahren ihr Kind selber zur Schule, denn wer will schon sein Kind leiden sehen? Doch Wilson und Lyons sehen solche Maßnahmen als ungesunde “Krücken”, die ängstlichen Kindern zwar kurzfristig ein Gefühl von Sicherheit geben, aber langfristig problematisch sind, da sie das Gefühl vermitteln, dass sehr starke, scheinbar übertriebene Angst akzeptiert wird. Solches Vermeidungsverhalten macht Kinder nur noch ängstlicher und sie “gehen nicht mehr aufs Leben zu”. Wird es nicht rechtzeitig korrigiert, sehen die Autoren in der Zukunft eines ängstlichen Kindes ein erhöhtes Risiko für psychische Erkrankungen wie Depressionen und Drogenabhängigkeit. Eltern können die Angstzustände ihrer Kinder auch durch ihre eigene Ängstlichkeit unwissentlich verschlimmern. Lyons und Wilson erinnern daran, dass die Erwachsenen im Leben eines Kindes einen sehr großen Einfluss auf dessen Verhalten haben, denn “Kinder greifen auch die kleinsten Hinweise auf ängstliches Verhalten vonseiten der Eltern auf”.

Die Lösung sehen Wilson und Lyons darin, dass Kinder und Eltern sich dem Unbehagen von Angstgefühlen stellen müssen, anstatt ihnen immer aus dem Weg zu gehen. Ängstliche Kinder müssen nämlich lernen, dass das Leben nicht immer vorhersehbar und sicher sein kann, und erwerben so wichtige Problemlösungsfähigkeiten, die langfristig für ein selbstständiges Leben essentiell sind. Die erste Hälfte des Buches beschäftigt sich damit, dass Kinder und Eltern Angst verstehen, akzeptieren und sich vornehmen, die Angst auch mal so richtig zu fühlen. Im siebten Kapitel kommt dann das konkrete Handeln dazu, denn Übung ist notwendig, um das Gehirn umzuschulen, sodass nur noch gerechtfertigte Gefahrenmeldungen die Amygdala erreichen, und nicht schon ein Arztbesuch schwitzige Hände und einen trockenen Mund hervorruft. Kinder müssen laut Wilson und Lyons lernen, in einer unangenehmen stressigen Situation auszuharren, ohne sofort Bedrohungssignale durch das Gehirn zu jagen. Wilson und Lyons nutzen für diese konkrete Umsetzung des Gelernten ein Puzzle-Modell. Es besteht aus sieben Puzzleteilen, die den Leser:innen im Laufe des Buches einzeln vorgestellt werden. Dazu gehören beispielsweise “An frühere Erfolge anknüpfen” und “Mit Sorgen rechnen”. In den letzten zwei Kapiteln werden alle Teile zusammengesteckt und schließlich in die Tat umgesetzt. 

Um Eltern zu helfen, ihre Kinder für die bevorstehenden Veränderungen zu motivieren, erhalten Käufer:innen des Buches auch ein Passwort für einen kostenlosen Download des E-Books “Casey’s Guide”. Darin geht es auf etwa 150 Seiten um die fiktionale vierzehnjährige Casey, die selbst an einer Angststörung leidet, die Symptome aber mit der Hilfe ihrer Mutter in den Griff bekommen hat und jetzt ihr Leben wieder in vollen Zügen genießen kann. Ihre Erfahrungen und die Maßnahmen, die ihr bei der Konfrontation mit ihrer Angst geholfen haben, teilt sie hier spielerisch mit ihren jungen Leser:innen. Das E-Book ist in kinderleichter Sprache geschrieben und richtet sich an Kinder zwischen acht und 15 Jahren. Der Inhalt verläuft etwa parallel zu dem des Hauptbuches, sodass Eltern und Kinder die Thematik zusammen durcharbeiten können. Am Ende von “Mein ängstliches Kind” finden erwachsene Leser:innen Zusatzmaterial, das “Casey’s Guide” begleitet. Dort wird das E-Book kapitelweise zusammengefasst, bevor Verständnisfragen gestellt werden und Denkaufgaben, die Eltern mit ihren Kindern anhand des Inhalts jedes Kapitels diskutieren können. Hier finden sich auch einige leere Tabellen zum Ausfüllen, um sowohl Gelerntes als auch gewisse Vorhaben zu festigen. Diese interaktive Gestaltung regt zu sofortigen positiven Veränderungen an. 

Mit ihrer Mischung aus wissenschaftlich fundierter Information und konkreten Tipps sowie Übungen für den Alltag, begleiten die zwei Bücher Familien vom Anfang bis zum Ende ihres Kampfs gegen die Angst. Schon zum Ende jedes Kapitels im Hauptbuch kommt ein “Zeit zum Handeln”-Teil, der Eltern ermutigt, das gelernte Wissen aus dem Kapitel sofort in die Tat umzusetzen. So können sie ihre Kinder auf beiläufige Art schon an wichtige Konzepte und Veränderungen heranführen, noch bevor sie mit “Casey’s Guide” beginnen. Zum Beispiel wird hier der Tipp aufgeführt, seinem Kind gegenüber nebenbei zu erwähnen, dass man das Buch gerade liest und spannend findet. Am Ende des letzten Kapitels finden Leser:innen einen zusammenfassenden Aktionsplan, der zusammen mit dem Kind ausgefüllt oder abgeschrieben werden kann. Hier gibt es auch Casey’s Plan als Orientierungsbeispiel. 

Doch auch die inhaltlichen Teile des Hauptbuches sind alles andere als trocken. Obwohl Informationen an einigen Stellen durch wissenschaftliche Funde und Studien untermauert werden, um dem vermittelten Wissen zusätzliche Glaubwürdigkeit zu verleihen, behält der Text, wie in der Einleitung versprochen, seinen “zwanglosen und entspannten Ton”. Der wissenschaftliche Inhalt wird auch durch erzählerisch beschriebene fiktionale Beispiele von Casey oder aber echten Fällen aus dem Berufsleben der Autoren untermalt und aufgelockert. Des Weiteren ist zum Lesen kein psychologisches Vorwissen nötig, denn das Buch beginnt mit einer anschaulichen und simplen Erklärung, was Angst aus biologischer Sicht überhaupt ist, wie sie sich am Körper bemerkbar macht, und wieso Angst für uns Menschen nahezu lebensnotwendig ist – nur eben in einem gewissen Rahmen. Es fallen Fachbegriffe wie “Amygdala” und “präfrontale Kortex”, diese werden aber so erklärt, dass auch jemand, der sie zum ersten Mal sieht, inhaltlich mitkommt. 

Das Buch erwähnt zwar einige konkrete Diagnosen als Beispiele, es wird aber auf keine einzelne Phobie oder andere Form von Angststörung genauer eingegangen, denn die Autoren halten es für “eine vielseitigere und effektivere Strategie”, wenn man lernt, “wie man auf die Gemeinsamkeiten reagiert, und nicht auf die Unterschiede”. So kann das Buch bei jeglicher Form von Angststörung helfen, muss aber dafür Nuancen bezüglich bestimmten Diagnosen einbüßen. Des Weiteren wird sich mehrmals auf die Bezeichnung “normal” gestützt, um nicht-ängstliche Kinder von ängstlichen abzugrenzen. Beispielsweise hat Casey sich “vom überängstlichen Kind hin zur normalen, aufgeschlossenen Jugendlichen” verwandelt. Mag das Wort “normal” für viele ein neutraler Begriff sein, besteht die Gefahr, dass manche Leser:innen darin eine unterschwellige negative Wertung von ängstlichen Kindern sehen. Auch wurde das englische Original bereits 2013 veröffentlicht, lange vor der Coronapandemie. Da der Lockdown und die damit einhergehende soziale Isolation vieler Kinder und Jugendlicher nachweislich zu einer Zunahme von Angststörungen bei jungen Menschen geführt hat, fehlen dem Buch eventuell die neuesten Erkenntnisse der Forschung zu ängstlichen Kindern, die aus den Veränderungen der Coronapandemie hervorgingen. 

Das Buch ist zwar für Eltern geschrieben, aber auch Lehrkräfte, die ihre ängstlichen Schüler:innen besser verstehen wollen, können davon profitieren. Mit “Mein ängstliches Kind” können sie lernen, wie sie im Schulalltag am besten mit Kindern umgehen, die unter Angststörungen leiden, ohne ihnen unwissentlich problematische Krücken an die Hand zu geben. Besonders das Unterkapitel “Schule, Sonderregelungen und Krücken” ist hier zu empfehlen. Dabei geht es um Sonderregelungen, die Lehrkräfte oft in Zusammenarbeit mit Eltern einführen, um den Kindern im Schulalltag vermeintlich zu helfen. Als Beispiel wird hier genannt, dass eine Schülerin jederzeit zur Schulpsychologin gehen durfte, um sich auszuruhen, wenn ihr der Trubel in der Klasse zu viel wurde. Doch was passierte, als die Psychologin krankheitsbedingt einige Wochen nicht arbeiten konnte? Das Mädchen weigerte sich, zur Schule zu gehen, da sie sich ohne ihre Vertrauensperson dort nicht mehr sicher fühlte. Dieses Beispiel unterstreicht, wie Krücken oft nur problemverschiebend wirken, anstatt ängstlichen Kindern langfristig zu helfen. Die Autoren fordern Lehrkräfte und Eltern deshalb auf, nur Sonderregelungen für Kinder in der Schule einzuführen, wenn es auch von Anfang an einen Entwöhnungsplan gibt, damit Kinder sowohl zuhause als auch in der Schule lernen, sich ihren Ängsten zu stellen. Denn: Egal ob als Elternteil oder als Lehrkraft, am Ende des Tages bleibt es laut Wilson und Lyons das Ziel, ängstliche Kinder gezielt so zu unterstützen, dass sie zur Bewältigung des Alltags “äußere Krücken” durch “innere Fähigkeiten” ersetzen können. 

“Mein ängstliches Kind” kann hier direkt beim Mankau Verlag erworben werden. Als E-Book ist es hier erhältlich. 

Dr. Reid Wilson und Lynn Lyons: Mein ängstliches Kind. In 7 Schritten den Sorgenkreislauf durchbrechen und mutige, unabhängige Kinder erziehen; Mankau Verlag, Murnau a. Staffelsee, 2023; 238 S.; 22 Euro, als E-Book 16,99 Euro

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