Was können wir vom Schulsystem in Dänemark lernen? Unsere Kolumnistin Kati Ahl hat sich das dänische Bildungssystem genauer angeschaut
Gerade sind die PISA-Offensiven der Bundesländer in die öffentlichen Diskussion gerückt (hier wurde ich vom Bayerischen Fernsehen dazu interviewt, etwa ab Minute 39:06 ), die als Reaktion auf die Ergebnisse einfach aus mehr Unterricht für Mathe und Deutsch in der Grundschule bestehen (in Bayern sogar auf Kosten von Zeit für Kunst und Musik). Man fragt sich: Mehr vom selben dessen, was vorher nicht geholfen hat? Wenn man Lernprozesse verbessern möchte, wie geht das am besten? Und: Die PISA-Ergebnisse sind besorgniserregend– aber messen sie auch das Richtige? Das ist eine hochpädagogische Frage, die nebenbei auch pädagogisch und nicht politisch gelöst werden sollte. Hilfreich ist da der Blick in andere Länder, die erfolgreicher sind: Wie hier nach Dänemark, das in Rankings zu Zukunftskompetenzen besonders gut abschneidet!
Denn insbesondere die skandinavischen Länder zeigen deutlich, dass man mit Wellbeing für Schülerinnen viel mehr erreicht. Finnland und Dänemark zählen laut World Happiness Report zu den glücklichsten Völkern - und erbringen gute Leistungen!
Dänemark belegt regelmäßig den zweiten Platz für die glücklichste Bevölkerung (nach Finnland), gemessen vom World Happiness Report der UN, der jährlich veröffentlicht wird. Die Glücksforscherin Maike van den Boom erklärt dieses wiederkehrende Ranking der skandinavischen Länder so: „In Deutschland vertrauen 30 Prozent ihren Mitmenschen, in Dänemark sind es 70 Prozent“. Sie führt das auf eine Art Wikinger-Mentalität zurück, den Zusammenhalt. „Dabei“, so van den Boom, „geht es nicht darum, der oder die Beste zu sein, sondern gemeinsam die beste Lösung zu finden“.
Ich frage mich: Wie gelingt es an dänischen Schulen, sowohl das Wohlbefinden als auch die Digitalisierung und Zukunftsorientierung zu fokussieren? Widerspricht sich das nicht, dänische Gemütlichkeit und cleane Technikorientierung?
Dänische Kinder lernen länger zusammen, der Unterricht gilt als innovativer, digitaler und inklusiver als anderswo. So titelte das Schulportal schon 2021 nach einer Dänemark-Reise „Mehr ‘hygge’ in Schulen?” Das wollte ich mir anschauen und bin im Herbst 2023 auf eine Bildungsreise zu dänischen Schulen gefahren. Dort konnte ich durch die Initiative von Leba Innovation Schulen und Bildungsorte anschauen, die selbst für dänische Maßstäbe besonders innovativ sind.
Zur Vorbereitung befragte ich Jacob Chammon, den gebürtigen Dänen, der in beiden Ländern als Lehrer und Schulleiter tätig war und sich heute als Geschäftsführer der Deutschen Telekom Stiftung einen Namen macht. Was ist anders? Worauf sollte ich besonders achten? Er wies mich vor allem auf die unterschiedlichen Kulturen hin: „Die Kultur ist eine andere. Der Fokus in dänischen Schulen liegt weniger auf Noten und Abschlüssen – Noten gibt es dort erst ab Klasse 9 –, sondern stark auf dem Wohlbefinden der Kinder und Jugendlichen.“
Das leuchtet mir sofort ein. Jedes Land prägt mit seiner Kultur das jeweilige Schulsystem. Und auch meine Recherchen bestätigen: Das Wohlbefinden der Menschen in der Schule hat in Dänemark einen ganz besonderen Stellenwert. So ist im nationalen Bildungsrahmenplan bereits angelegt, dass es für das Wellbeing einen besonderen Fokus an Schulen geben soll und sie verpflichtet sind, hierfür Maßnahmen zu ergreifen.
Alle Schulen haben ein Programm für „Trivsel“, also das Wohlergehen. Jährlich werden die Schüler:innen dazu befragt. Die Ergebnisse und Durchschnittswerte werden offen auf der Homepage veröffentlicht, und zwar im Vergleich zu den Mittelwerten der Schulen der Kommune. Es lässt sich daran ablesen, wie der Wert der Schule für Wohlbefinden sich im Vergleich zum Vorjahr entwickelt hat, wie er sich im Vergleich zu den anderen Schulen der Kommune liest und welche Maßnahmen die Schule unternimmt, um den Wert zu erhalten oder zu verbessern. Die Kokkedal Skole in Kokkedal hatte beispielsweise auf einer Skala von 0-10 einen Durchschnittswert von 7,4 und liegt damit etwas über dem kommunalen Durchschnitt der Wohlbefindens von Schüler:innen. Auf deren Webseite finde ich ebenfalls den „Trivselhandleplan“ und die Antimobbingstrategie als Konzepte, die mit allen Kolleg:innen und Eltern ausgehandelt wurden. Die PISA-Ergebnisse werden in Dänemark ebenfalls in Kollegien und Bildungszusammenhängen diskutiert, aber nicht gegen das Wohlbefinden ausgespielt. Das Wohlbefinden hat eindeutig Vorrang, denn allen ist klar, dass nur ein entspanntes Gehirn aufnahmefähig ist.
Wenn ich meine Impulse der Bildungsreise vorstelle, diskutieren deutsche Kolleg:innen manchmal mit mir: Sie würden Kinder ja ebenfalls befragen, wie es ihnen geht, etwa ritualisiert im Morgenkreis oder als Klassenrat. Aber ein Ranking der Schulen nach Wohlbefinden geht eindeutig weiter und ist viel wirkungsvoller! Eine jährliche schulweite Befragung, der Vergleich mit dem Vorjahr und den Nachbarschulen bringt einen starken Fokus und die Verpflichtung, tief in die Strukturen zu schauen, die die Schulatmosphäre ausmachen. Die öffentliche Priorisierung des Wellbeings sowohl in der Bildungspolitik als auch gesellschaftlich und unter der Elternschaft reicht wesentlich tiefer als Einzelmaßnahmen innerhalb der Klasse es vermögen. Wir könnten z.B. endlich die Absentismus- und Drop-out-Quote – also derjenigen die die Schule nicht als ihren Ort empfinden und die Schule abbrechen – hinterfragen und mehr Jugendliche erreichen. Schließlich ist bekannt, dass Schulabsentismus und Drop-out ganz wesentlich mit der Atmosphäre an der Schule korrelieren!
Während in Deutschland eine Wohlfühlatmosphäre noch oft als Kuschelpädagogik abgetan wird, ist in Dänemark der Zusammenhang mit Leistungsbereitschaft viel bekannter. Ich spreche in meinem Podcast „Schule lass mal reden!“ mit Helle Jenssen, einer dänischen Schulpsychologin und Ex-Kollegin von Jesper Juul, warum die skandinavischen Länder ein anderes Verhältnis zum Wohlbefinden haben. Sie ist beim Projekt Empathie macht Schule international engagiert und spricht in diesem Zusammenhang von einer generationenübergreifenden Traumatisierung, die die deutsche Bevölkerung im Zusammenhang mit dem 2. Weltkrieg erlebt hat. Was auf den ersten Blick als ungewöhnlicher Gedanke erscheint, macht Sinn, wenn man sich fragt: Sind wir vielleicht immer noch überzeugt, dass das Leben hart ist und dass Leistung anstrengend sein muss? Sehen das skandinavische Gesellschaften vielleicht anders?
Den ganzen Podcast mit Helle Jensen hört ihr hier.
Julie ist eine Schülerin der 7. Klasse in der Kokkedal Skole, die sich mit mir sehr sicher auf Englisch unterhält. Neben ihr sitzen der Lehrer Ole und die Schulleiterin Kirsten. Alle duzen sich. Auf meine Frage, wie gerne sie auf einer Skala von 0-10 zur Schule geht, antwortet sie mit gewinnender Ehrlichkeit, manchmal sei es eine 2 und manchmal eine 9. Darauf folgen Beispiele von ihr und dem Lehrer, die erzählen, wann sie Erlebnisse einer echten 9 hatte, beispielsweise als sie im Taucheranzug im Hafenbecken tauchte, um das Algenwachstum für ein Unterrichtsprojekt zu messen. Mir fällt auf, wie ungezwungen sie mit den Erwachsenen spricht. Sie besucht nachmittags nach dem Unterricht freiwillig die Innovateket, also etwa das naturwissenschaftliche Zentrum samt Makerspace und Podcast-Studio, das die Schule gerade für den Nachmittag aufgebaut hat. Dort nimmt sie mit einer Mitschülerin einen Podcast auf, in dem sie ein Interview zur Dänisch-Lektüre durchspielen. Alle Digitalisierung wird eher beiläufig eingesetzt. So gelingt die Verbindung von Zukunftsorientierung und dem Fokus auf das Wohlergehen scheinbar mühelos. Es bleibt trotzdem dabei, wie Julie sagt: „Sometimes it´s a 2, sometimes it´s a 9“. Aber man spricht offen darüber und es interessiert sowohl Lehrkräfte als auch die Schulleitung. Und: Die Schule ist ein guter Ort für sie, an den sie auch nachmittags gerne kommt. Das wünsche ich mir für deutsche Schüler:innen!
Was die PISA-Offensiven angeht: Mehr Zeit für Grundschulen ist eine tolle Initiative, aber an anderer Stelle, denn eine reine Erhöhung der Stundentafel nützt nichts! Stattdessen wäre die Zeit besser an anderer Stelle investiert: gemeinsam geplanter Unterricht durch Kolleg:innen, Zeit für Absprachen und Kooperation. Denn: Geht es den Lehrkräften gut, geht es auch den Schüler:innen besser. Weniger Druck und mehr Verständnis für die Bedeutung von Wohlergehen wäre ein nächster Schritt...