Die besten Reiseerfahrungen macht man ja oft ungeplant, durch zufällige Begegnungen oder unerwartete Ereignisse. So ging es auch mir, als ich bei einem Austausch für Lehrkräfte in Kanada das Land der Seen und Wälder durch besondere Erfahrungen anders erlebte. Schon am ersten Abend zeigte sich, dass in Kanada einiges anders läuft – nicht nur im Alltag, sondern auch in der Bildung. Was hat das mit der Leitbildentwicklung in Schulen zu tun? Mehr, als man auf den ersten Blick vermuten würde.
Gleich zu Beginn meiner Reise erlebte ich etwas, das mich verblüffte: Im Eishockey-Stadion, kurz vor einem großen Spiel, tauchte plötzlich ein Stammesältester in Federschmuck auf der Leinwand auf und hielt eine Rede, in der er das Land als das ursprüngliche Territorium indigener Völker beanspruchte und anerkannte. Meine Austauschkollegin erklärte mir, dass dies in Kanada gängige Praxis sei – eine Art des symbolischen Acknowledgement (übersetzt Anerkennung), das die tiefe Verbindung zur Geschichte und den Respekt vor der indigenen Bevölkerung ausdrückt. Dieser Respekt und die Anerkennung der indigenen Wurzeln sind seit etwa zehn Jahren in der kanadischen Gesellschaft verankert und prägen auch die Art und Weise, wie Bildung dort verstanden wird. So wird vor jedem Meeting das Acknowledgement verlesen, es hängt in jedem Schulamt und in jeder Schule aus, um die schlechte Behandlung in der Vergangenheit wiedergutzumachen.
In Kanada wird Schulentwicklung grundlegend anders angegangen. Während man in Deutschland oft lange über Leitbilder diskutiert und diese in umfangreichen Prozessen an der Schule vor Ort entwickelt werden, kommt das Leitbild in Kanada, Alberta von der Schulbehörde. Nach dem Motto “keep it short and simple” (KISS) werden einfache, aber kraftvolle Aussagen formuliert. Das Leitbild für Calgary zum Beispiel, eine Stadt mit fast 500.000 Schüler:innen, besteht aus genau drei Sätzen:
Und als Mission für alle Lernenden ist dieses Ziel formuliert:
Each student in keeping with their individual abilities and gifts, will complete high school with a foundation of learning necessary to thrive in life, work and continued learning.
Diese kurze, klare Botschaft hängt in allen Schulämtern und Bildungsinstitutionen direkt am Eingang und dient als konkreter Leitfaden für Entscheidungen und Diskussionen. Statt endlose Debatten zu führen, fragt man in Kanada schlichtweg: “Wie wirkt sich das positiv auf das Lernen oder die Schülerschaft aus?” – und schon ist manche Diskussion in eine andere Richtung gelenkt. Man könnte meinen, dass durch diesen pragmatischen Ansatz viel Zeit und Aufwand gespart wird. Aber bedeutet das, dass der Prozess der Leitbildentwicklung überflüssig ist? Ganz so einfach ist es dann doch nicht.
Während in Kanada das Leitbild oft vorgegeben wird, haben die Schulen dennoch die Freiheit, einzelne Ziele wie den “Sense of Belonging”, also das Gefühl der Zugehörigkeit, selbst zu gestalten. Dieser Aspekt ist Teil des CBE Indigenous Education Holistic Lifelong Learning Framework und wird als besonders wichtig erachtet, weil er präventiv besonders wirksam ist gegen Probleme wie Sucht, Gangmitgliedschaften und Schulabsentismus. Jede Schule findet ihre eigenen Wege, diesen “Sense of Belonging” zu fördern. In der Winston Churchill School in Alberta etwa läuft das Projekt “Boas for the Better”, bei dem besondere Projekte und Leistungen, die der Gemeinschaft zugutekommen, öffentlich gewürdigt werden.
Die Frage bleibt: Braucht man den Prozess der Leitbildentwicklung wirklich, oder reicht es, hilft es womöglich sogar, ein kurzes, prägnantes Statement wie in Kanada zu haben? Hier gibt es verschiedene Ansichten. Die einen argumentieren, dass ein klar vorgegebenes Leitbild unnötige Diskussionen erspart und den Fokus auf das Wesentliche lenkt. Die anderen sehen im Prozess der gemeinsamen Entwicklung eine Chance für die Schule vor Ort, Identifikation und Zusammenhalt im Kollegium zu stärken.
Vielleicht liegt die Wahrheit irgendwo in der Mitte. Ein starkes Leitbild, das von allen getragen wird, ist sicherlich wertvoll. Aber der Weg dorthin, die Diskussionen und Aushandlungsprozesse, in denen ein solches Leitbild entsteht, könnten genauso wichtig sein – nicht nur, um das “Was”, sondern auch das “Warum” und “Wie” gemeinsam zu entdecken und zu leben. Denn letztendlich ist es diese gemeinsame Vision, die Schulen zu Orten macht, an denen nicht nur gelernt, sondern auch eine Gemeinschaft gelebt wird.
Und noch etwas ist übrigens in Kanada anders: Die Ziele und das Leitbild sind unabhängig von den politischen Entwicklungen und Landtagswahlen. Kanada ist zwar auch föderal organisiert und es gibt in jedem Land ein Bildungsministerium. Aber jedes Schulamt wird in den großen Entscheidungen von dem Board of Trustees, von gewählten Personen gelenkt und kontrolliert und ist damit auch im Leitbild unabhängig von aktuellen politischen Strömungen.
Während meines Austauschs mit einer kanadischen Kollegin in Alberta konnte ich wertvolle Erfahrungen in Kanada sammeln. Eindrücke meiner Reise habe ich in einem Video festgehalten, das du dir hier ansehen kannst. In meinem Podcast “Schule, lass mal reden!” habe ich ebenfalls über diese Erlebnisse und weitere bildungspolitische Themen gesprochen. Zusätzlich empfehle ich den Artikel “Wie Kanada die Startchancen für Kinder aus geflüchteten Familien steigert” im Deutschen Schulportal, der sich intensiv mit diesem Thema auseinandersetzt.