Erster Versuch der bayerischen "Verfassungsviertelstunde" gestartet

Demokratie im Klassenzimmer: In der Verfassungsviertelstunde sollen Schulalltag und Grundwerte der Gesellschaft miteinander verknüpft werden. (Quelle: Unsplash)

München. Zum kommenden Schuljahr gibt es in Bayern die sogenannte Verfassungsviertelstunde als Neuerung im Lehrplan. Diese wurde von Ministerpräsident Markus Söder (CSU) und Kultusministerin Anna Stolz (Freie Wähler) am Donnerstag beim Besuch des Wittelsbacher-Gymnasiums in München vorgestellt. Zentrale Rolle ist die “Auseinandersetzung mit aktuellen gesellschaftlichen Ereignissen und der freiheitlich demokratischen Grundordnung”. Im kommenden Schuljahr soll sich wöchentlich eine „Viertelstunde für die Verfassung“ genommen werden. Doch nicht alle Jahrgangsstufen werden sich intensiv mit dem Konzept auseinandersetzen. So soll es in den Grundschulen die Verfassungsviertelstunde in den zweiten und vierten Klassen geben, in den weiterführenden Schulen in den Jahrgangsstufen sechs und acht und im Gymnasium sowie an Fachoberschulen in der Jahrgangsstufe elf. In Berufsschulen hingegen sind alle Jahrgänge einbezogen. Nach sechs Monaten soll ein erstes Fazit gezogen werden, im Jahr 2025 sollen weitere Jahrgänge folgen. 

Sensibilisierung im Unterricht

Am Donnerstag wurde ein Video der 11c des Wittelsbacher-Gymnasiums gezeigt, in dem Fußballer des FC Bayern München Hasskommentare vorlesen, die sie meist im Netz erhalten. Neben Beleidigungen wird auch immer wieder Rassismus in den Kommentarspalten der sozialen Netzwerke deutlich. Die Lehrerin der besuchten Klasse leitet mittels des Videos die Beschäftigung des Artikel 5 aus dem Grundgesetz ein und sensibilisiert die Schüler:innen mit dem Thema des wachsenden Hasses  im Internet. „Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern“ – doch wie weit darf die Meinungsäußerung gehen? Schnell haben die Schüler:innen Ideen und Antworten parat, die nacheinander gemeinsam besprochen werden.Die Idee stammt vom Bayerischen Landesverein für Heimatpflege. Rudolf Neumaier schlug im Herbst 2023 vor, statt täglichem Gebet lieber über die Verfassung zu sprechen. Die Kirche verliert bei jungen Menschen immer mehr an Bedeutung und so könnte man sich einen anderen Weg suchen, die Vorstellungen von einem friedlichen Zusammenleben zu vermitteln. Nach langen Auseinandersetzungen hatten sich die CSU und Freie Wähler in ihrem Koalitionsvertrag auf einen intensiven Fokus der Verfassungswerte geeinigt. „Wir sehen, welchen Einfluss radikale Szenen gerade auf junge Leute auszuüben versuchen. Und da ist es ein Gegenimpuls“, erklärt Söder. Ziel der Verfassungsviertelstunde sei es,  ein Bewusstsein für Demokratie zu schaffen. „Wir wollen Demokratie erlebbarer machen“, so Söder. „Es geht darum, dass wir die  Lebenswelt der Schülerinnen und Schüler aufgreifen und dann einen Bezug herstellen zur Verfassung, zu den Werten, zu unserer Demokratie“, fügt Stolz hinzu. Lehrer:innen und Schüler:innen beschäftigen sich anhand aktueller und lebensnaher Beispiele insbesondere mit den Grundrechten und den Werteprinzipien der freiheitlich-demokratischen Grundordnung. Ziel der Verfassungsviertelstunde ist es, die politische Bildung an Schulen weiter zu stärken und gleichzeitig die Demokratiekompetenz weiterzuentwickeln. 

Demokratie betrifft nicht nur die Politikstunde 

Die Verfassungsviertelstunde soll innerhalb der Unterrichtszeit stattfinden, unabhängig von den einzelnen Fächern, die in der Woche auf dem Lehrplan stehen. Somit liegt das Augenmerk der Demokratie nicht nur in Geschichte und Politik, sondern auch in Mathematik und Sport. Die Schulen und die jeweiligen Lehrer:innen dürfen die passenden Einheiten so flexibel, offen und kreativ wie möglich gestalten. Leistungsbewertungen und -erhebungen solle es nicht geben. Die erste Erfahrung mit der Verfassungsviertelstunde wurde innerhalb der 11c gut angenommen. Gerade die Umsetzung mittels Diskussion unter den Schüler:innen war „spannender als Frontalunterricht,” so ein Schüler. Auch Landesschülersprecher der Gymnasien, Heinrich Ritter, betont: „Wir haben schon seit Langem mehr politische Bildung an den Schulen gefordert”. Doch für intensive Diskussionen müsse mehr Zeit gegeben werden. Die Reaktionen der Verbände zur Verfassungsviertelstunde sind gemischt. Lehrerverbände sehen das Konzept kritisch, insbesondere wegen des Lehrermangels und der Befürchtung, der zusätzlichen Aufgabe nicht gerecht werden zu können. Die Verfassungsviertelstunde soll neben vielen anderen Aufgaben im Bildungsbereich “keine weitere Belastung werden”.  Landesvorsitzende der Gewerkschaft für Erziehung und Wissenschaft, Martina Borgendale, erklärt, dass die politische Bildung in Bayern zwar zu kurz kommt, die Verfassungsviertelstunde aber der falsche Ansatz  sei. Der Verband Bildung und Erziehung hält die Einführung der Verfassungsviertelstunde ebenfalls für nicht notwendig. “Wenn politische Ränder zunehmen, brauche es eine ganz andere politische Bildung,” betont stellvertretende Bundesvorsitzende Simone Fleischmann. Es gibt allerdings auch positive Reaktionen von Elternverbänden zur Verfassungsviertelstunde. Sie finden darin eine wichtige Maßnahme zur Förderung der Demokratiebildung und Werteerziehung an Schulen. Die Eltern sehen dennoch die Auseinandersetzung mit der freiheitlich-demokratischen Grundordnung als einen bedeutsamen Schritt zur Stärkung der Demokratie und Bekämpfung von Radikalisierung. Wie weit sich das Konzept der Verfassungsviertelstunde noch entwickeln wird, lässt sich erst in einigen Monaten sehen. 

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