Kluft im Klassenzimmer: Bildungsungerechtigkeit an deutschen Schulen

Eine Einschulungsfeier an irgendeiner Grundschule irgendwo in Deutschland: „Wisst ihr denn schon, was ihr einmal werden wollt, Kinder?", fragt der Schulleiter Herr Stigma und blickt dabei in die erwartungsvollen Augen der Schulanfänger. „Ärztin!“, antworten Annkathrin, Cheyenne und Selma wie aus einem Munde. Herr Stigma muss in sich hinein schmunzeln, denn er weiß, dass vermutlich nur eines der drei Mädchen diesen Traum später einmal realisieren wird. Für die anderen beiden stehen die Chancen schlecht, das wurde schon vor Generationen so festgelegt. 

Hätte Uropa doch mal besser in der Schule aufgepasst 

Um aus einer einkommensschwachen Schicht aufzusteigen, braucht eine Familie hierzulande sechs Generationen. Deutschland liegt damit deutlich über dem Durchschnitt der OECD-Länder von viereinhalb Generationen. „Mangelnde Bildungsmobilität“ nennen Wissenschaftler dieses Phänomen. Das bedeutet: Kinder wählen mit großer Wahrscheinlichkeit denselben Bildungsweg wie zuvor ihre Eltern, wobei von "Wahl" eigentlich nicht die Rede sein kann.

„Bildung wird in Deutschland immer noch überdurchschnittlich stark vererbt.“ (Ulrich Hinz, Bereichsleiter der “Schülerförderung“ bei der Stiftung der Deutschen Wirtschaft)

Was das konkret bedeutet, veranschaulicht der aktuelle ifo-Chancen Monitor der Universität München. Basierend auf dem Mikrozensus von 2019 wurde der Einfluss der Faktoren: Einkommen, Schulabschluss, Migrationshintergrund und Alleinerziehendenstatus der Eltern auf die Wahrscheinlichkeit eines Gymnasialbesuchs ihrer Kinder untersucht. Dabei wurde eine Stichprobe von 50.000 Kindern und Jugendlichen im Alter von zehn bis 18 Jahren herangezogen. Der Gymnasialbesuch ist ein hervorragender Indikator für die sozialen und wirtschaftlichen Chancen eines Kindes, da das Abitur den Zugang zu allen weiterführenden Bildungswegen sowie dem Hochschulsystem gewährt. Werfen wir gemeinsam einen Blick darauf, wie wahrscheinlich ein Gymnasialbesuch für die drei Mädchen aus unserer Einleitung ist. 

Wie Wahrscheinlich ist der Gymnasialbesuch für Kinder aus verschiedenen sozialen Milieus? (Abbildung: Redaktion mit Daten aus dem ifo-Chancenmonitor 2023)

Für Annkathrin stehen die Chancen, das Gymnasium besuchen zu dürfen, blendend. Bei Kindern, deren Eltern einen ähnlichen sozioökonomischen Status vorweisen können, liegt die Wahrscheinlichkeit eines Gymnasialbesuchs bei über 80 Prozent. Schlechter sieht es allerdings für Cheyenne und Selma aus: Nur eins von fünf Kindern, deren Eltern einen Migrationshintergrund, kein Abitur und ein Haushaltsnettoeinkommen von unter 2 600 Euro haben, erhält die Chance aufs Gymnasium zu gehen. Interessant ist auch, dass der Bildungshintergrund dabei deutlich gewichtiger ist als der Migrationshintergrund. Im Rahmen des ifo-Chancenmonitors waren es gerade die Kinder von Eltern mit hohem sozioökonomischem Status und Migrationshintergrund, die die allerhöchsten Chancen auf einen Gymnasialbesuch hatten (80,6 Prozent). 

Von Bürden und Hürden

Schauen wir uns einmal mögliche Gründe an. Eltern mit niedrigem oder keinem Bildungsabschluss sowie geringen finanziellen Mitteln entscheiden sich in den meisten Fällen gegen den Gymnasialbesuch ihres Nachwuchses. Gymnasium, das bedeutet mindestens acht Jahre Schule und ist somit der längste Bildungsweg im deutschen Schulsystem. Wenn dann im Anschluss ein Studium gewählt wird, erhöht sich diese Dauer um mindestens weitere drei Jahre. Zeit, in der potenziell schon Geld verdient werden könnte. Hinzu kommt, dass die Berufsaussichten mit einem Studium in den meisten Fällen unbestimmter sind als bei einem Ausbildungsberuf. Letzterer erscheint vielen Nichtakademikern demnach deutlich sicherer. Spätestens beim Studium kommt dann auch noch ein finanzieller Aspekt hinzu. Semesterbeiträge, teure Lernmaterialien, ein möglicher Umzug – ein Berg an Kosten, der für viele finanzschwache Familien unüberwindbar scheint. 

Auch Selmas Familie ist sich alledem bewusst. Ihre Eltern haben beide nie studiert und können auch kein Abitur vorweisen. Trotzdem – sie haben das Potential ihrer Tochter erkannt und wollen sie bei ihrem Zukunftsweg bestmöglich unterstützen. Allerdings gibt es eine weitere Hürde, denn: Akademikerkinder erhalten bei gleicher Leistung viermal häufiger eine Gymnasialempfehlung als Nichtakademikerkinder und das, obwohl die Vorgaben der Kultusministerkonferenz (KMK) dahingehend eindeutig sind. 

„Jedem Kind muss – ohne Rücksicht auf Stand und Vermögen der Eltern – der Bildungsweg offen stehen, der seiner Bildungsfähigkeit entspricht.“ 

Eltern mit einem hohen sozioökonomischen Status erwarten häufig eine Gymnasialempfehlung für ihre Kinder, auch wenn die Leistungsfähigkeit und die Noten noch weit unter der zu erreichenden Schwelle liegen. „Viele Lehrkräfte fühlen sich dann unter Druck gesetzt und knicken ein“, berichtet Sanna Pohlmann-Rother, Autorin und Inhaberin des Lehrstuhls für Grundschulpädagogik und Grundschuldidaktik an der Universität Würzburg.  

Aber selbst wenn die Gymnasialempfehlung für Nichtakademikerkinder erteilt wird, erwarten sie spätestens nach dem Abitur neue Hürden. 

Die Schwierigkeiten wachsen, je näher man dem Ziele kommt 

Studierende aus Nichtakademikerfamilien, Arbeiterkinder, Studierende der ersten Generation, viele Bezeichnungen für ein- und denselben Sachverhalt: Junge Erwachsene, deren Eltern keinen Uniabschluss haben und die nun die ersten in ihrer Familie sind, die sich an eine Universität oder Hochschule wagen. Nach Angaben des Stifterverbands für die Deutsche Wissenschaft studieren nur 27 Prozent der Arbeiterkinder, wohingegen es bei Akademikerkindern 79 Prozent sind. Und während rund ein Drittel der Arbeiterkinder das Studium abbricht, sind es bei den Akademikern nur 15 Prozent. Das hat auch einen Grund, denn der Hürdenlauf von Arbeiterkindern endet nicht mit der Einschreibung an der Universität. In einer Studie im Auftrag der Hans-Böckler-Stiftung evaluierten die Konstanzer Hochschulforscher Holger und Tino Bartel sieben Hindernisse auf dem Weg zum Akademiker. Neben den bereits erwähnten, wie finanzieller Belastung und Unsicherheit beim Übergang in den Beruf, zeichnete sich vor allem ab, dass dem Nachwuchs aus Arbeiterfamilien die Anonymität an Hochschulen doppelt so stark zu schaffen macht wie anderen. Sie zeigen sich im Universitätsmilieu häufig zurückhaltender, sodass ihre potentielle Leistungsfähigkeit seltener wahrgenommen wird. Das wirkt sich vor allem auf die Auswahl für Tutoren- oder Hilfskraftstellen und Stipendienprogramme aus. 71 Prozent der Geförderten stammen aus Akademikerfamilien.

Hürden für Arbeiterkinder abbauen 

Das zu ändern, hat sich die Initiative arbeiterkind.de auf die Fahne geschrieben. Es geht ihnen vor allem darum, Arbeiterkinder mit Informationen über das Studium zu versorgen. Von dem Bewerbungsverfahren über die Finanzierung bis hin zu Stipendien – auf der Website, über Infotelefone und offene Treffen an 80 Standorten können sich Nichtakademikerkinder Auskünfte rund ums Studium einholen. Das ist wichtig, denn das Elternhaus gibt ihnen solche Informationen meistens nicht mit. Die Initiative setzt sogar bereits vor dem Studium an. Ehrenamtler – meistens selbst Studierende der ersten Generation – gehen in die Schulen und halten kurze Vorträge über ihre eigene Laufbahn, um die Schüler:innen zu ermutigen. Andere Förderprogramme wiederum konzentrieren sich ausschließlich auf die erste Zeit an der Uni. 

Ein wichtiger Schritt zu mehr Durchlässigkeit im Deutschen Bildungssystem. Doch zurück zu Annkathrin, Cheyenne und Selma. Die drei stehen noch ganz am Anfang ihrer schulischen Laufbahn. Die traurige Realität ist, dass Herr Stigma – unter den aktuellen Bedingungen im deutschen Bildungswesen – mit seiner Prognose wahrscheinlich recht behalten wird. Denn tatsächlich liegt die Wahrscheinlichkeit, als Arbeiterkind einen Doktortitel zu erlangen, aktuell bei gerade einmal einem Prozent. 

Wir haben gesehen, dass die Bildungschancen zum Teil schon vor Generationen festgelegt wurden und dass es häufig schwer fällt, diese Determination aufzubrechen. Experten appellieren deshalb, bereits deutlich früher zu intervenieren. Die Wissenschaftler des ifo-Chancenmonitors reichen vor allem folgende Handlungsempfehlungen:

  1. Frühkindliche Bildungsangebote für benachteiligte Kinder ausbauen
  2. Familien benachteiligter Kinder bei der Erziehung unterstützen
  3. Die besten Lehrkräfte an Schulen mit vielen benachteiligten Kindern bringen
  4. Nachhilfeprogramme für benachteiligte Kinder früh und kostenfrei anbieten
  5. Aufteilung auf unterschiedliche weiterführende Schulen verschieben 
  6. Mentoring-Programme für benachteiligte Kinder fördern

Ansätze, die vielerorts bereits Anklang finden, aber definitiv noch weiter ausgebaut werden müssen. Hoffnungsvoll stimmt auch das “Startchancen-Programm” der Ampelkoalition, das ab dem Schuljahr 2024/2025 Kindern und Jugendlichen bessere Bildungschancen unabhängig von der sozialen Lage ihrer Eltern ermöglichen soll. Die Entwicklungen bleiben abzuwarten. 

Wie sind eure Erfahrungen mit der Durchlässigkeit des deutschen Schulsystems? Wart ihr als Arbeiterkinder eventuell sogar selbst betroffen? Lasst es uns in den Kommentaren wissen!

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