Lehrkräftemangel: Wie Dick kommt es wirklich?

Schüler sitzen im Unterricht, der Lehrer steht neben einem großen Bildschirm

Zwei Jahre Pandemie, kaputte oder nicht vorhandene Technik, zu große Klassen und nun auch noch die anstehende Integration ukrainischer Flüchtlingskinder in die Schulen: Bereits heute haben Lehrkräfte in deutschen Schulen ein Arbeitspensum zu bewältigen, um das man sie nicht beneiden kann.

Doch die nächsten Jahre werden keine Entlastung bringen, denn ohne Gegenmaßnahmen könnten bis 2035 bis zu 158.000 Lehrkräfte fehlen. Das ergibt zumindest eine neue Studie des Bildungsforschers Prof. Klaus Klemm im Auftrag des Verband Erziehung und Bildung (VBE). Bereits im Januar stritten sich der VBE und die Kultusministerkonferenz (KMK) um die tatsächliche Höhe des zu erwartenden Lehrkräftemangels (Lehrer-News berichtete). Nun geht der Streit in die nächste Runde, weswegen wir Euch ein Update geben.

KMK: Bis 2035 fehlen 24.000 Lehrkräfte

Die neueste Prognose der KMK geht davon aus, dass bis 2035 bis zu 24.000 Lehrkräfte fehlen könnten. Das ist zwar eine beachtliche Zahl, aber deutlich geringer als die der VBE-Studie. Die KMK erwartet, dass beinahe alle Schularten- und Stufen betroffen sein werden, lediglich für den Sekundarbereich II und Gymnasien erwartet die Modellrechnung der KMK ein Überangebot an Lehrkräften.

Besonders dramatisch ist die Lage in Berlin: Bis 2034 erwartet die KMK für die Sekundarstufe II an Gymnasien und beruflichen Schulen einen Mangel von insgesamt 4.300 Lehrer:innen. Die jetzt schon hohe Belastung der Berliner Lehrkräfte könnte damit noch zunehmen. Vergangene Woche gab es bereits einen Warnstreik der Berliner Lehrkräfte, 3.000 Lehrer:innen demonstrierten vor dem Roten Rathaus für eine Reduzierung der Arbeitsbelastung (Lehrer-news berichtete).

Für Gesamtdeutschland beschreibt die KMK den künftigen Bedarf zwar als „große Herausforderung“ für die Länder, betont aber zugleich, dass sich dadurch „gute Einstellungschancen“ für angehende Lehrkräfte ergäben.

Karin Prien (CDU), Präsidentin der KMK und Bildungsministerin in Schleswig-Holstein kündigte einige Maßnahmen als Reaktion an. Die Länder seien sich „der herausfordernden Lage sehr wohl bewusst“, weswegen die KMK ihre Ständige Wissenschaftliche Kommission beauftragt hat Empfehlungen zur Lehrkräfteausbildung und der Gesamtpersonalsituation an Schulen zu erarbeiten. Es müsse gelingen „das Studium und den so wichtigen Beruf der Lehrerinnen und Lehrer durch weitere Maßnahmen noch attraktiver zu machen.“

Pressfoto von Karien Prien, KMK-Präsidentin
Quelle: Frank Peter

VBE beklagt “Verschleierung der Realität”

In einer Pressemitteilung des VBE begrüßt dessen Vorsitzender Udo Beckmann zwar „ausdrücklich“, dass der „Gewinnung neuer Lehrkräfte endlich ein besonderer Stellenwert“ eingeräumt werde, sieht aber in den Prognosen der KMK „Schönrechnerei“. Die KMK verschließe sich seriöser Berechnung und stehle sich so nicht nur aus der Verantwortung, sondern kaschiere auch den immensen Handlungsdruck.

Er beruft sich dabei auf die von seinem Verband in Auftrag gegebene Studie des Essener Bildungsforscher Prof. Klaus Klemm. Nachdem dieser bereits im Januar für 2030 einen deutlich größeren Mangel an Lehrkräften als die KMK berechnete, überprüfte er die Prognosen für 2035. Er kommt erneut zu dem Ergebnis, dass die KMK den künftigen Bedarf an Lehrkräften unter- und das künftige Angebot an Lehrkräften massiv überschätze. Daher würden bis 2035 zwischen 127.000 und 158.000 Lehrkräfte fehlen, also deutlich mehr als 24.000.

Gründe für die unterschiedlichen Angaben zum Lehrkräftemangel

Dieser erhebliche Unterschied wirft natürlich die Frage nach den Ursachen auf. Der VBE und Prof. Klemm führen zwei Gründe an. Erstens beachte die KMK nicht ihre eigenen schulpolitischen Maßnahmen und daraus resultierende Anforderungen an die Schulen. Aufgrund des Ausbaus des Ganztagsangebotes in Grundschulen, der Inklusion und der Unterstützung von sozial benachteiligten Kindern gebe es einen erheblichen Mehrbedarf an Lehrer:innen.

Zweitens seien die „Berechnung der KMK zum Neuangebot originär ausgebildeter Lehrkräfte höchst unrealistisch“. Prof. Klemm sieht ein „um mehr als 100.000 Lehrkräfte geringeres Angebot als von der KMK berechnet.“

Die untenstehende Grafik zeigt den von Prof. Klemm errechneten Mehrbedarf an Lehrkräften, welcher durch die jeweiligen Maßnahmen entstehe und von der KMK ignoriert werde.

Schaubild zum Lehrkräftemehrbedarf durch ausgewählte Reformmaßnahmen in Stellen bis 2035

Was tun gegen die Engpässe?

Trotz des Streits um die tatsächliche Höhe des Lehrkräftemangels sind sich Politik und VBE einig, dass Gegenmaßnahmen ergriffen werden müssen. Yvonne Gebauer (FDP), Schulministerin in Nordrhein-Westfalen, denkt über eine Abschaffung der NC-Beschränkung für das Lehramtsstudium nach, während Thüringens Bildungsminister Helmut Holter fordert, den Lehrerberuf attraktiver zu machen und „Seiteneinsteiger reinzuholen“. Insbesondere die Erhöhung der Attraktivität scheint notwendig, denn viele Lehrer:innen leiden unter hohem Stress und starren Strukturen, weshalb viele von ihnen den Schuldienst verlassen.

In seiner Pressemitteilung fordert der VBE eine Reihe von Maßnahmen, darunter ebenfalls eine Steigerung der Attraktivität des Lehrkräfteberufs sowie eine verbesserte Planung und Durchführung der Lehramtsausbildung und eine sofortige „bundesweite Fachkräfteoffensive“. Darüber hinaus müsse sich die Politik ehrlich machen und künftig „valide, ehrliche, aktuelle und vollumfänglich transparente“ Prognosen zum künftigen Lehrkräftebedarf- und angebot machen.

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