Brandenburgs Kultusminister Steffen Freiberg (Quelle: MBJS Potsdam)
Im Mai fand in Potsdam ein außerplanmäßiger Wechsel im Kultusministerium statt (Lehrer News berichtete). Im Gespräch mit Lehrer-News nimmt Brandenburgs neuer Bildungsminister Steffen Freiberg Stellung zum akuten Lehrermangel, rechten Tendenzen an Schulen, den Herausforderungen der Digitalisierung – und wie KI die Bildung der Zukunft verändern wird.
Lehrer News: Lassen Sie uns zunächst über ein Thema sprechen, das Lehrkräften wohl nicht nur in Brandenburg am meisten unter den Nägeln brennt: Der Lehrermangel. Rund 30.000 Menschen waren am Wochenende bundesweit auf der Straße, um für bessere Arbeitsbedingungen und eine grundlegende Reform des Schulsystems zu demonstrieren. Wie sieht die Lage momentan in Ihrem Bundesland aus?
Freiberg: Wir haben in Brandenburg einen vergleichsweise ruhigen Schuljahresbeginn hinter uns: Und das in einer Situation, wo wir nicht alle Stellen besetzen konnten. Nichtsdestotrotz ist die Stundentafel an allen öffentlichen Schulen abgesichert gewesen. Natürlich kommt es dann an der einen oder anderen Stelle entweder zu fachlichen Engpässen oder es müssen in ergänzende oder begleitende Angebote eingegriffen werden. Aber wir beobachten, dass die Zahl der Ausschreibungen kontinuierlich weiter sinkt. Anfang vergangener Woche waren wir bei 340, während es zum Schuljahresbeginn noch fast 500 waren. Das Land Brandenburg, wie fast alle anderen auch, stellt kontinuierlich ein und versucht die Bedarfe zu decken. Zur Wahrheit gehört aber auch: Ohne Seiteneinsteigerinnen und Seiteneinsteiger geht es nicht – und wird es auch in den kommenden Jahren nicht gehen.
Ich habe am ersten Tag meines Amtes im Landtag gesagt, dass Schule aus mindestens zwei Gründen nie wieder so sein wird wie vor der Pandemie: Der eine Grund ist KI und der andere ist die personelle Situation, in der sich das Schulsystem insgesamt befindet.
Lehrer News: Welche Konzepte haben Sie in der Tasche um dem Phänomen Lehrermangel in Brandenburg zu begegnen?
Freiberg: Wir sind momentan in einer Situation, in der es in fast allen Branchen Arbeitskräftemangel gibt, der sich voraussichtlich weiter verschärfen wird. Der Wettbewerb um die Köpfe findet längst nicht mehr nur innerhalb eines Bundeslandes statt. Im Lehrerbereich suchen gerade alle Bundesländer massiv nach neuen Lehrkräften, selbst Länder wie Bayern müssen da mittlerweile mit Prämien arbeiten, um neue Lehrkräfte an Bord zu bekommen.
Wir arbeiten mit den Konzepten, die wir jetzt in der aktuellen Situation nutzen können. Wir versuchen beispielsweise über ein Stipendium Lehrerinnen und Lehrer an den ländlichen Raum zu binden. Wir sind außerdem dabei, in die konkreten Beschäftigungssituationen zu schauen, beispielsweise, indem wir ab diesem Schuljahr das Angebot für grundständig ausgebildete Lehrkräfte, als Vertretungslehrkraft zu arbeiten, deutlich verbessern wollen. Das sind alles kleine Bausteine.
Mit Blick auf die mittelfristige Perspektive sind wir derzeit in Verhandlungen mit den Gewerkschaften in allen Branchen des öffentlichen Dienstes, und schauen, an welchen Stellen wir beispielsweise über Zulagen die Attraktivität des Beschäftigungssystems weiter verbessern können. Was für mich momentan kein Thema ist, ist eine verpflichtende Mehrarbeitsstunde. Das ist etwas, was zwar auch in Brandenburg diskutiert wurde, aber nicht von mir oder von der SPD, sondern von anderen Parteien. Ich halte das in der Situation, in der Lehrerinnen und Lehrer nach der Pandemie sind – sowie im Kontext einer angespannten gesellschaftlichen Situation – für die falsche Richtung. Wir setzen eher darauf, denjenigen, die dazu bereit sind in bestimmten Lebensphasen – planmäßig, nicht verpflichtend – eine Stunde mehr zu arbeiten, diese Möglichkeit zu gewähren.
Die größte Ressource ist in Brandenburg ohnehin nicht die Teilzeit-Debatte. Brandenburg ist hier auf Platz drei in der Vergleichsrechnung der Länder. Das ist nicht unser Thema. Das sind in aller Regel diejenigen, die Kinder haben oder Pflege betreiben zu Hause. Da würde ich, selbst wenn ich könnte, nicht ran wollen. Es ist eher die Frage, ob wir es schaffen – und wenn ja, wie – Kolleginnen und Kollegen länger im Dienst zu halten. Also diejenigen, die mit 63 regulär den Dienst verlassen können, dazu zu ermutigen, noch ein oder zwei Jahre dran zu hängen. Auch das ist ein Thema, das wir im Moment mit den Gewerkschaften beraten.
Lehrer News: Zuletzt hat unsere Leser der Fall einer Lehrerin in Sachsen-Anhalt mit mehr als 40 Dienstjahren umgetrieben, die sich weigerte, Mehrarbeitszeit zu leisten und deswegen fristlos gekündigt wurde…
Freiberg: Die Kollegin soll sich bei uns melden. Wir stellen sie gerne ein.
Lehrer News: …Sie verfolgen ja gerade einen anderen Ansatz in Brandenburg. Wie sieht der aus und wie wird der bislang in der Praxis angenommen?
Freiberg: Im Mai habe ich alle bisherigen Diskussionsvorschläge zu dem Thema zurückgenommen und einen neuen Diskussionsvorschlag in die Runde geworfen. Hierbei sollen die Erfahrungen und die Lebensarbeitszeit der Lehrkräfte berücksichtigt werden. Wir hatten vorgeschlagen ein Modell mit einem fortschreitenden Anrechnungsstundensystem einzuführen, das die Kolleginnen und Kollegen entweder zu Unterricht verpflichtet oder mit den Anrechnungsstunden durch Kapitalisierung in der Schule dann anderes Personal beschäftigt werden kann. Das haben wir über die Sommerferien beraten. Zugegebenermaßen hätte das mit den noch relativ wenig konkreten Informationen nicht gereicht, am Anfang des Schuljahres einen erheblichen Effekt in der Unterrichtsversorgung zu erzielen. Deswegen haben wir in Abstimmung mit dem Landesschulbeirat, entschieden, nichts übers Knie zu brechen, sondern in Ruhe weitere Eckpunkte zu entwickeln und im kommenden Jahr umzusetzen. Das Ziel bleibt ältere, erfahrene Lehrkräften zu motivieren, länger im Schuldienst zu bleiben. Mir geht es nicht um meinen Vorschlag, sondern um eine Lösung. Es geht um mehr Unterricht.
Lehrer News: Kommen wir zum Thema Digitalisierung. Der Digitalpaket läuft kommenden Mai aus, ein Nachfolger ist noch nicht in Sicht. Währenddessen fehlt es nicht nur an Geräten, vor allem das nötige Personal, um Lehrkräfte zu entlasten, scheint in weiter Ferne. Wie kann die Ausstattung von Schulen mit IT-Fachkräften Ihrer Meinung nach gelingen?
Freiberg: Das ist ganz offen gestanden kein Konzept, das ich für wirklich gelungen halte. Digitalisierung von Schule ist etwas, was ja jederzeit abrufbar von allen Orten, von allen möglichen Geräten, also dezentral laufen soll. Damit das gut funktioniert, muss aber die Recheninfrastruktur genauso wie die Service-Infrastruktur zentralisiert werden. Ansonsten kann das nämlich erstens keiner bezahlen und zweitens müssen sonst alle 240 Schulträger in Brandenburg dieselben Fragen von Datenschutz und IT-Sicherheit alle nebeneinander selbst lösen. Das wäre Unsinn. Hier muss es eine Kooperation auf horizontaler Ebene geben, und ich bin sehr froh, dass es in Brandenburg eine Entwicklung in dem Bereich gibt. Es gibt mit DIKOM einen zentralen IT-Dienstleister aus der kommunalen Familie, der sich in den vergangenen zwei Jahren mit dem Thema Schule sehr viel stärker befasst hat, als das vorher der Fall war. Das ist eine Aufgabe, die im Bereich der kommunalen Schulverwaltung lange Zeit mit unterschiedlicher Priorität behandelt wurde. Das hat sich aber geändert. Immer mehr kommunale Gebietskörperschaften in Brandenburg gehen auf die DIKOM zu und schließen sich dort zusammen. Das ist der richtige Weg, der First Level Support für Lehrerinnen und Lehrer muss über eine solche Struktur abgedeckt werden.
Lehrer News: Arbeiten Sie beim Thema Digitalisierung auch schon mit EdTech-Unternehmen zusammen – und was sind in dem Bereich für Projekte geplant?
Freiberg: Wir haben im kleinen Maßstab erst mal die bestehenden Angebote von EdTech-Unternehmen über Landeslizenzen eingebunden. Ehrlicherweise ist es aber nicht ganz leicht bei großen Ausschreibungen Angebote von kleineren Firmen oder Start-Ups zu bekommen, die in der Lage sind, diese Ausschreibungen abzubilden, wenn es um ganze Schulsysteme geht. Der Charakter eines Start-Ups und die Größe und Reichweite der Aufgabe sind da manchmal noch nicht ganz übereinander zu bringen. Es gibt aber auch Beispiele, dass das funktionieren kann.
Lehrer News: Wenn wir im Jahr 2023 über Digitalisierung sprechen, kommen wir nicht am Thema Künstliche Intelligenz vorbei. ChatGPT und Co werden sich in Zukunft nicht in Luft auflösen. Die Frage bleibt, wie Lehrkräfte und Schüler damit umgehen sollen. Was ist Ihr Ansatz bei diesem Thema – und welche Rolle spielt KI momentan in Lehrplänen und Digitalisierungsstrategie von Brandenburg?
Freiberg: Sie sagen es: KI wird nicht wieder weggehen. Ich hatte im Frühjahr noch die Gelegenheit mit Open AI (der Firma hinter ChatGPT, Anm. d. Red.) gemeinsam mit anderen Institutionen auf Einladung der Robert Bosch Stiftung zu sprechen. Da ist klar erkennbar gewesen: Das, was ChatGPT jetzt kann, ist erst der Anfang der Entwicklung und nicht das Ende. Darauf muss man sich einstellen. Wir als Land Brandenburg haben zunächst die Realität an den Schulen begleitet, indem wir jetzt einen Leitfaden rausgegeben haben für den Umgang mit ChatGPT und Künstlicher Intelligenz. Die größte unmittelbare Herausforderung ist das Bewertungsprinzip von außerschulischen Aufgaben. Das ist etwas, was sich stark ändern wird. Die Frage: „Schreib mal einen Text und den reichst du dann zur Bewertung ein“, wird sich so nicht mehr abbilden lassen. Wir diskutieren derzeit die Frage, welchen Einfluss das auf die Prüfungskultur in Deutschland insgesamt haben wird. Klar ist schon jetzt, dass sich das Bewertungsformat insbesondere von größeren textlichen Arbeiten wird ändern müssen.
Lehrer News: Apropos ändern müssen. Zuletzt machten mehrere rechtsextreme Vorfälle an Brandenburger Schulen Schlagzeilen, Ihr Vorgehen wurde dabei als zögerlich kritisiert. In Umfragen wäre die AfD momentan stärkste Kraft in Ihrem Bundesland und jeder vierte Schüler vertritt laut der Studie “Jugend in Brandenburg 2022” die Ansicht, dass der Nationalsozialismus auch seine guten Seiten hatte. Inwiefern erreichen Sie aus dem Kultusministerium heraus überhaupt noch die Basis?
Freiberg: Aus besagter Studie kann man ebenfalls herauslesen, dass sich diese sehr schwierigen Einstellungen zur Demokratie in Brandenburg mehr oder weniger horizontal entwickeln. Es gab in den letzten Jahren trotz Pandemie keine Beschleunigung, sondern das hat sich auf einem Niveau, das ohne Frage beklagenswert hoch und herausfordernd ist, stabilisiert. Zu den demoskopischen Erhebungen: Wenn Sie sich die Umfrage in Brandenburg genau anschauen spielt Bildung bei den wichtigsten Themen der Wähler mit fünf Prozent nahezu keine Rolle. Es sind im Moment ganz überwiegend bundes- und außenpolitische Themen, die die Menschen in Brandenburg bewegen. Die Angst, die von solchen Parteien in diesen Themenfeldern geschürt wird, schlägt sich dann natürlich entsprechend in den Umfragen nieder.
Wir haben ein Pilotprojekt mit dem Titel „Starke Lehrer – starke Schüler“, aus der Bundesförderung in eine Landesförderung überführt und damit institutionalisiert. Starke Lehrer – starke Schüler hat an ausgewählten Schulen untersucht, wie sich mit Coaching, Mikrointerventionen und Fortbildungen für Lehrer und Schüler die Resilienz für den demokratischen Rechtsstaat unterstützen und stärken lässt. Wir haben uns unabhängig von den Vorfällen in Burg dazu entschieden, dieses Programm aus eigenen Mitteln in ein dauerhaftes Programm umzuwandeln. Und ich hoffe sehr, dass das von den Schulen auch entsprechend angenommen wird. Oft werden solche Angebote von denjenigen Schulen angenommen, bei denen die Awareness und die Resilienz ohnehin hoch sind, während diejenigen, bei denen ein solches Programm mehr Wirkung entfalten würde, oftmals nicht so geneigt sind, das von sich aus anzugehen. Da muss man genau überlegen, wie man das macht, ohne am Ende gegen den Zweck zu arbeiten. Das ist manchmal nicht ganz leicht.
Wir haben darüber hinaus mit dem 5-Punkte-Plan zur Stärkung der politischen Bildung in den Unterrichtsinhalten Schwerpunkte gesetzt. Gerade erst haben wir eine Handlungsbroschüre veröffentlicht, die anhand relativ konkreter Fallgestaltungen beschreibt, wie man ad hoc agieren kann, wenn es zu schwierigen Situationen kommt. Trotzdem werden wir die Vorschriften, die die Grundlage dafür bildet, wie die Schulen zu reagieren haben, noch ein wenig praxisnäher ausgestalten. Klar ist auch: Es gibt keine Toleranz im Schuldienst Brandenburgs für Verfassungsfeinde. Das will ich hier noch mal ganz klar sagen.
Lehrer News: Werfen wir zum Schluss noch einen Blick in die Zukunft. Wie sehen Sie die Zukunft des Schulsystems mit Blick auf die kommenden Jahrzehnte? Was muss sich ändern – und wie soll die Schule der Zukunft aussehen?
Freiberg: Fangen wir mal damit an, was sich nicht ändern muss. Nicht ändern darf sich die zentrale Stellung einer Lehrkraft als der entscheidende Faktor für den Lernerfolg von Schülerinnen und Schülern. Das ist die zentrale Schlüsselstelle, um die es geht und auf die wir einen großen Fokus legen müssen. Was sich vielleicht ein Stück weit ändern muss ist, ist die Frage der Bewertungskultur. In Deutschland und in Mitteleuropa ist das Bewertungssystem am Ende darauf ausgelegt, Prüfungen in einer bestimmten Art und Weise abzunehmen, bei der man noch mal ganz genau hinschauen muss, ob das im 21. Jahrhundert wirklich das ist, was wir wirklich prüfen wollen. Prüfen kann man vieles – aber ob das immer das ist, was wir wirklich prüfen wollen in jeder Hinsicht, muss man sich noch mal ganz genau anschauen.
Und ich glaube, dass wir im Zuge der Digitalisierung und gerade bei der Nutzung von KI ein Stück weit überlegen müssen wie wir – mit guten Konzepten und mit guten Ideen – schülerzentrierte Lernsysteme schaffen. Die erlauben es, auch für die jenigen, die mehr Förderung brauchen und die vielleicht sich im Unterricht nicht immer zuerst melden, eine Umgebung zu schaffen, in der sie oder er ihren jeweils individuellen besten Schulabschluss tatsächlich auch schaffen können. Wir brauchen dafür mehr schülerzentrierte Lernplattformen im digitalen Bereich, auch außerhalb der Schule.
Lehrer News: Vielen Dank für das Gespräch!