Leere Stühle im Klassenzimmer sind gerade in den heißen Sommermonaten keine Seltenheit. Hinter Schulabsentismus stecken jedoch häufig ernsthaftere Gründe als die bloße Lustlosigkeit.
“Der Absentismus beschreibt lediglich die beobachtbare Verhaltensebene, die Gründe sind immer wesentlich komplexer und bedürfen Beziehungsarbeit über Monate und die Auseinandersetzung mit den gesamten Systemen, in denen die Jugendlichen sich befinden.” (Sozialpädagoge Kevin Fröhlich)
Endlich hat der Sommer Deutschland erreicht. An Tagen, an denen die Temperaturen die 30-Grad-Marke knacken, erscheinen Freibad und Park mit einem Mal sehr viel attraktiver als der stickige Klassenraum und trockener Unterricht bis in die Nachmittagsstunden. Und plötzlich bleiben einige Stühle im Klassenzimmer in der fünften und sechsten Stunde unbesetzt. Dich beschleicht das ungute Gefühl, dass die entsprechenden Schüler:innen wahrscheinlich blau machen. Aber kann man ihnen dies verübeln? „Mama ich hab so Kopfschmerzen“, „Papa mir ist übel“ – Aussagen, die vermutlich die meisten in ihrer Kindheit selbst schon einmal getätigt haben, obwohl sie sich topfit fühlten. Manchmal möchte man als Kind einfach nicht in die Schule. Die Gründe dafür sind vielfältig. Lustlosigkeit und das Gefühl „irgendwie krank zu sein“ sind laut einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Iconkids & Youth die Hauptgründe für das unentschuldigte Fehlen von Schüler:innen. Was aber, wenn aus einer einmaligen Sache plötzlich immer mehr Fehltage werden und eine Schülerin oder ein Schüler schlussendlich überhaupt nicht mehr zum Unterricht erscheint?
Der Fachbegriff für das unrechtmäßige Fernbleiben vom Unterricht lautet „Schulabsentismus“. Bundesweiten Schätzungen zufolge nehmen etwa fünf Prozent der Schulpflichtigen gar nicht mehr am Unterricht teil, und das mit weitreichenden Folgen: Schulabsentismus ist häufig mit verminderten Bildungs- oder Berufschancen, sozialer Ausgrenzung und erhöhter Straffälligkeit verbunden. In einigen Bundesländern ist Schulabsentismus per se eine Ordnungswidrigkeit und wird mit hohen Bußgeldern – und zuweilen sogar mit Jugendarrest – geahndet. Eine VICE-Recherche ergab, dass im Jahr 2017 über 1.000 Schüler:innen im Arrest landeten, weil sie die Schule schwänzten. Schulschwänzen ist eine Abwärtsspirale, die es frühestmöglich zu durchbrechen gilt, bevor es chronische Züge annimmt.
Vor diesem Hintergrund hat das Land Mecklenburg-Vorpommern einen Handlungsleitfaden für Lehrkräfte herausgegeben. Der Tenor lautet: “Wo Schulen Präventions- und Interventionsstrategien deutlich erkennbar werden lassen, reduzieren sie erfahrungsgemäß schulmeidendes Verhalten und halten Nachahmer ab.“ Was zunächst plausibel klingt, ist in der Praxis gar nicht so leicht zu realisieren. Schulabsentismus hat viele Facetten. Wie erkenne ich einen (beginnenden) Schulabsentismus? Ist jedes Schwänzen gleich Absentismus? Welche Maßnahmen sollte ich als Lehrer:in ergreifen, wenn ich den Verdacht hege, dass sich eine Schülerin oder ein Schüler zum „Intensiv-Schwänzer“ entwickelt? Und ist es überhaupt meine Aufgabe hier zu intervenieren oder sollte ich das lieber den Sozialarbeitern und Psychologen überlassen?
Fragen über Fragen und wir haben die Antworten. Im Gespräch mit dem Sozialpädagogen Kevin Fröhlich durften wir einige spannende Einblicke in die pädagogische Interventionsarbeit in dem Feld „Schulabsentismus“ gewinnen, die wir nachfolgend mit euch teilen wollen.
Kevin Fröhlich ist Erzieher und studierter Sozialpädagoge mit zehnjähriger Berufserfahrung. Seit 2020 leitet er das Tagesgruppenangebot Unicius bei der Bochumer Jugendhilfeeinrichtung St. Vinzenz e.V., das darauf spezialisiert ist Schüler:innen nach langfristigem Schulabsentismus in Schulen zu (re)integrieren.
Darüber hinaus haben der Sozialpädagoge und sein Team 2021 die Komma Klar UG ins Leben gerufen und bieten Sozialtrainings für Schulklassen sowie pädagogische Fortbildungen für Lehrkräfte u.a. zum Thema Schulabsentismus an. Interessierte können sich auf diesem Instagram-Kanal informieren.
Lehrer-News: Herr Fröhlich, Sie leiten ein Tagesgruppenangebot in einer Jugendhilfeeinrichtung, das Schüler:innen dabei unterstützt, sich mit den Gründen ihres Schulabsentismus auseinanderzusetzen. Erklären Sie uns die Begrifflichkeit bitte einmal ganz genau. Wie würden Sie Schulabsentismus definieren? Beginnt dieser schon mit dem ersten Mal „blau machen“?
Fröhlich: Bei den Begrifflichkeiten ist es sehr wichtig, genauer hinzusehen. Besonders die Jugendlichen, die zu uns kommen sind keine Schwänzer:innen. Wir nehmen nämlich nur nach Paragraph 35a auf und sind somit eine Wiedereingliederungshilfe. Es handelt sich um hochsensible Jugendliche, die das System nicht mehr ausgehalten haben. Sie sind krank geworden durch Druck, Ausgrenzung, zu wenig Filtermöglichkeiten – eine hohe Sensibilität eben. Kommen zu dieser Besonderheit weitere Belastungsfaktoren, ist oft der Drop-out die einzig mögliche Strategie für die jungen Menschen. Der Absentismus beschreibt lediglich die beobachtbare Verhaltensebene, die Gründe sind immer wesentlich komplexer und bedürfen Beziehungsarbeit über Monate und die Auseinandersetzung mit den gesamten Systemen, in denen die Jugendlichen sich befinden.
Lehrer-News: Auf der Internetseite der Jugendhilfeeinrichtung St. Vinzenz Bochum e.V. werden Schulangst, Schulphobie, Sozialphobie, häusliche Rahmenbedingungen und persönliche Gründe als mögliche Ursachen für Schulabsentismus aufgeführt. Was ist Ihrer Erfahrung nach der häufigste Grund für das Fernbleiben von der Schule?
Fröhlich: Einer der wesentlichen Gründe ist wohl das Nicht-Gesehen und Nicht-Verstanden werden in seiner Besonderheit, sei es Autismus-Spektrum, ADHS, Hochintelligenz oder einfach anders zu sein. Die Schule ist ein zu großes Setting mit enormen sozialen Herausforderungen. Jugendliche, die nicht der gesellschaftlichen Mitte entsprechen, fallen hier durch das Raster. Die Jugendlichen sind nicht in der Lage dies zu kompensieren. Es können hier traumatische Erfahrungen entstehen und dadurch entwickeln sich sozialer Rückzug und psychische Erkrankungen. 80 Prozent unserer Teilnehmer:innen sind während der Schulzeit von massiver Gewalt und Mobbing betroffen gewesen. Jeder Fall ist verschieden und die Ursachen sind multifaktoriell. Eines haben aber alle gemeinsam, sie profitieren enorm durch die Begleitung auf der Beziehungsebene und durch einen Fokus auf alles das, was nicht krank ist. Und besonders von einer Gruppe, die ähnliches erlebt hat und respektvoll ist.
Lehrer-News: Ihr Tagesgruppenangebot richtet sich an Schüler:innen zwischen zwölf und sechzehn Jahren. Hat das einen bestimmten Grund?
Fröhlich: Die Erfahrung hat gezeigt, dass es leider lange dauert, bis Hilfen installiert werden. Die Jugendlichen sind teilweise bereits mehrere Jahre absent. Es beginnt mit Kopfschmerzen und endet mit einer mittelschweren Depression. Die Strategie des Rückzugs verstärkt hier leider die Folgen. Aktuell ist unser Durchschnittsalter 16. Das liegt nicht daran, dass es keine jüngeren Kinder gibt, die absent sind, sondern dass sie sich von Krankschreibung zu Krankschreibung hangeln und weder Eltern noch Lehrer:innen wissen, was los ist. Erst wenn gar nichts mehr geht, kommt oft der Klinikaufenthalt, der leider oft nicht erfolgreich ist oder Sorgeberechtigte sind verzweifelt und schalten das Jugendamt ein. Das System verändert sich jedoch nicht. Hilfsangebote haben jedoch meist etwas mit neuen Menschen oder Gruppen zu tun, hier sind die Ängste und Vorbehalte besonders groß – das erfordert viel Feingefühl und braucht Zeit.
Lehrer-News: In den Medien liest man immer häufiger darüber, dass Schulabsentismus auch bei Grundschüler:innen kein seltenes Phänomen sei. Sehen Sie bei den Jüngsten andere Beweggründe, dem Unterricht fern zu bleiben als bei älteren Kindern?
Fröhlich: Wir beobachten immer mehr Schulabsentismus schon im Grundschulalter. Daher arbeitet der St. Vinzenz e.V. gerade an einem Konzept auch für jüngere Kinder. Oft erleben wir aber auch hier, dass von Seiten der Schule keine Zusammenarbeit möglich ist. Kinder werden nur noch stundenweise beschult, weil sie nicht tragbar sind. Die Pandemie hat zusätzlich dazu beigetragen, dass Kinder weniger soziale Fähigkeiten erlernt haben. Schule wird zwangsläufig mit allen ihren Problemen pädagogischer, die Ausbildung von Lehrkräften wird es nicht. Lehrermangel etc. Das kann nicht gut gehen. Es ist ein politisches Problem. Insgesamt gilt jedoch: Je früher angesetzt wird und Hilfsangebote entwickelt werden, desto besser.
Lehrer-News: Was ist mit den Eltern? Wissen diese in der Regel, dass ihre Kinder die Schule schwänzen?
Fröhlich: Ja, die Eltern wissen Bescheid, sind aber ohnmächtig. Gegen eine totale Verweigerung lässt sich durch mehr Druck fast nichts machen. Besonders dann nicht, wenn es sich um einen Überlebensinstinkt und Schutzmechanismus handelt. Oft kommt eine Berufstätigkeit hinzu. Es fehlen mögliche Optionen.
Lehrer-News: Wie sieht ihre Arbeit konkret aus? Wo setzen Sie bei den Schüler:innen an und wie sind die generellen Erfolgschancen?
Fröhlich: Ressourcenarbeit, individuelle Förderung von Stärken, Empowerment, raus aus der Komfortzone und wieder rein in die Gesellschaft – aber langsam. Es braucht seine Zeit und die ist geprägt von Rückschlägen. Nicht alle schaffen es nach einem Jahr wieder in das Schulsystem, aber fast alle, die wir begleiten dürfen, stabilisieren sich und haben am Ende ein Ziel. Wir haben hier schon einige Wunder erlebt.
Lehrer-News: Welche Handlungstipps würden Sie Lehrer:innen an die Hand geben für den Fall, dass sie den Verdacht haben, dass sich bei einem ihrer Schüler:innen Schulabsentismus entwickelt?
Fröhlich: Prävention! Vielfalt fördern, soziale Kompetenzen fördern, in Beziehung gehen und Wissen über Neurodivergenz. Grundlagen schaffen für echtes Lernen. Und vor allen Dingen: einen sicheren Ort schaffen für alle. Dazu gehört viel Präsenz und eine klare Haltung gegen Gewalt und Ausgrenzung, das geht nur im ganzen Kollegium. Niemand kann lernen, wenn er Angst hat - Bindung vor Bildung.
Lehrer-News: Deutschlandweit sind die Lehrkräfte bereits überlastet. Halten Sie es für eine gute Idee, ihnen auch das Problem „Schulabsentismus“ aufzubürden? Wie und vor allem wer sollte das Problem ihrer Meinung nach in Zukunft angehen?
Fröhlich: Ich befürchte, Schulabsentismus ist kein neues Problem, dass sich jemand aufbürden muss. Es war immer da, dass früher Kinder und Jugendliche auf den Straßen „blau gemacht" haben. Heute findet die Peer Group auch online statt, viele Eltern sind arbeiten und handlungsunfähig. Die Strategie der totalen Verweigerung funktioniert besonders in diesen Familien richtig gut. Das Schulsystem ist seit Jahrzehnten krank, alle wissen es, doch es verändert sich nichts. Schulabsentismus ist das Gegenstück zur Gewalt, anstatt zu kämpfen gehe ich in den Flucht- oder Freeze-Modus. Das kennt man aus der Traumapädagogik und steht für Notfall-Programm, nur leider kommt niemand zur Hilfe. Jugendhilfe und Schule benötigen dringend eine engere Vernetzung, um Schulabsentismus aufzufangen. Eine Gruppe wie unsere bräuchte es in jeder Stadt, aber auch wir löschen nur die Brände. Die Politik und das Schulsystem müssen dafür sorgen, dass es nicht mehr brennt. Das scheint leider utopisch, von daher ist es zwingend notwendig, dass Gefährdungsmeldungen bei gefährdeten Schüler:innen auch das Jugendamt erreichen und man gemeinsam Lösungen sucht.
Lehrer-News: Herzlichen Dank für das informative Gespräch!