Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann hat sich in der Hausaufgaben-Debatte positioniert (Quelle: Commons)
Berlin/Stuttgart. Nach der von Linken-Vorsitzenden Janine Wissler eingebrachten Forderung, Hausaufgaben abzuschaffen, ist eine neue Debatte zu dem Thema entbrannt. Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne), selbst ehemals Lehrer, gab dabei Wisslers Forderung zuletzt Rückenwind.
„Der alltägliche Hausaufgaben-Stress vergiftet das Familienleben, bedeutet Streit, Überforderung, Tränen und schürt Aggressionen“, schrieb Wissler in einem Gastbeitrag für den Berliner Tagesspiegel. Hausaufgaben seien das „Outsourcing“ schulischer Lehre in die Familien, so Wissler. Das Bildungsniveau der Eltern dürfe jedoch nicht entscheidend für die Erfüllung schulischer Aufgaben sein. „Machen wir Schluss mit diesem Outsourcing schulischer Aufgaben in die Familien und an private Nachhilfeanbieter, die man sich erst mal leisten können muss“, forderte Wissler.
Auch für den baden-württembergischen Ministerpräsidenten spricht viel dafür, den Nutzen von Hausaufgaben zu überdenken. „Ich habe fast nie Hausaufgaben gegeben, weil ich vom Sinn der Hausaufgaben, von ihrem Erfolg, nicht sehr überzeugt war“, so der Grünen-Politiker. Hausaufgaben sollten jedoch nicht ersatzlos gestrichen, sondern durch eine bessere Ganztagesbetreuung ersetzt werden. Ausgerechnet damit tun sich jedoch viele Eltern in seinem Bundesland schwer, entsprechende Reformkonzepte in diese Richtung sind bislang nicht in Tritt gekommen.
Kritik an dem Vorstoß kam unter anderem aus Bayern. Dessen Kultusminister Michael Piazolo sagte dem Münchner „Merkur“, dass Hausaufgaben beim Lernen helfen würden, „wenn sie ein gewisses Maß nicht übersteigen“. Einer generellen Abschaffung steht Piazolo jedoch ablehnend gegenüber. Mehr Verständnis kam hingegen von der bayerischen Landesvorsitzenden der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW), Martina Borgendale. Grund hierfür wären die sozialen Unterschiede, die sich mit Hausaufgaben noch verschärfen könnten, sagte Borgendale gegenüber dem Bayerischen Rundfunk. Für “unverzichtbar” hält Hausaufgaben hingegen der bayerische Philologenverband. “Um Lerninhalte wirklich zu durchdringen, muss man sie selbst durchdenken. Und genau dieser Verstehensprozess findet auch am Nachmittag statt - mit lernpsychologisch sinnvollem Abstand zum Unterricht”, so der Landesvorsitzende Michael Schwägerl. Netzlehrer Bob Blume äußerte sich differenziert. Hausaufgaben “können sinnvoll sein”, würden aber in vielen Fällen eher das Ungleichgewicht zwischen Schülern, die zu Hause Hilfe bekommen und jenen, bei denen dies nicht der Fall ist, verstärken.
Der reale Nutzen von Hausaufgaben gilt in der Wissenschaft seit längerer Zeit als umstritten. Eine Studie des Pädagogen Bernhard Wittmann aus dem Jahr 1964 kam zu dem Schluss, dass Hausaufgaben keinen signifikanten Zuwachs an Kenntnissen und Fähigkeiten bei Schülern bewirken. Wittmann beobachtete für die Studie vier Monate lang Volksschulklassen der dritten und siebten Jahrgangsstufe, von denen einige von Mathematik- und Deutschhausaufgaben befreit wurden. Lediglich die Siebtklässler verbesserten damals teilweise ihre Rechtschreibfertigkeiten.
Eine Studie der TU Dresden gelangte 2008 zu ähnlichen Ergebnissen. "Gute Schüler werden durch Hausaufgaben nicht unbedingt noch besser", erklärte Hans Gängler von der Fakultät Erziehungswissenschaften der TU Dresden die Studienergebnisse, "und schlechte Schüler begreifen durch bloßes Wiederholen noch lange nicht, was sie schon am Vormittag nicht richtig verstanden haben." Die Forschenden befragten für ihre Erhebung mehr als 1300 Schüler und 500 Lehrkräfte an sächsischen Ganztagsschulen. Bei drei Vierteln der Schüler stellte sich durch Hausaufgaben kein messbarer Lernerfolg ein. Andreas Wiere, wissenschaftlicher Mitarbeiter der Fakultät für Erziehungswissenschaften, bezeichnete Hausaufgaben als „nicht mehr als ein pädagogisches Ritual“. Hilfreicher sei gezielte Förderung durch zusätzliche Trainingsstunden, so Wiere.
In den vergangenen Jahren scheint in der Praxis zumindest ein gewisses Umdenken stattgefunden zu haben: Junge Lehrer geben im Schnitt weniger Hausaufgaben auf als ihre älteren Kollegen.