Wenig Vertrauen in sich selbst, die Zukunft und die Welt: Kinder und Jugendliche in der "Spirale des Vertrauensverlustes"
Die Corona-Pandemie hat in vielen Bereichen des Lebens und der Gesellschaft ihre Spuren hinterlassen. Besonders traf es dabei Kinder und Jugendliche. Nach und nach wird immer klarer, wie groß die Ausmaße der Belastung für die jungen Menschen tatsächlich waren. Erst kürzlich ist das Fitnessbarometer 2023 der Kinderturnstiftung Baden-Württemberg erschienen. Die Ergebnisse zeigen: Kinder sind deutlich langsamer und weniger ausdauernd als vor der Pandemie. Professor Klaus Bös, der bei der Erstellung des Barometers mitgewirkt hat, spricht von einem zu befürchtenden “Corona-Knick” bei der Betrachtung der körperlichen Fitness von Kindern. Ein besorgniserregender Trend, findet Bös: „Wir müssten mehr tun für unsere Kinder, aber wir tun es nicht”. Das gilt nicht nur beim Thema Sport. Immer häufiger werden Stimmen laut, die einen größeren Einsatz für die Verbesserung der physischen und vor allem psychischen Gesundheit von Kindern und Jugendlichen fordern und dabei an Eltern, Schulen und Politik appellieren. Aktuell leiden beispielsweise geschätzt etwa 3 bis 10 Prozent aller Jugendlichen zwischen 12 und 17 Jahren an Depressionen. Die Gründe dieser Entwicklung hin zu einer immer drastischeren Verschlechterung der psychischen Gesundheit von Kindern liegen jedoch nicht ausschließlich bei Corona. Zwei neue Studien haben sich der Suche nach den Ursprüngen und Ausmaßen des Denkens und Fühlens junger Menschen in Deutschland und Europa angenommen und blicken dabei auf Vertrauen, Verschwörungsneigung, Repräsentation und die Gefühle und Ängste von Kindern und Jugendlichen.
Die “Vertrauensstudie 2022”, die im Auftrag der Bepanthen-Kinderförderung von der Universität Bielefeld durchgeführt wurde, stellt sich der Frage: Wie sehr vertrauen Kinder und Jugendliche in sich, in andere und in ihre Zukunft? An ihr haben über 1500 Kinder im Alter von 6 bis 11 Jahren und Jugendliche von 12 bis 16 Jahren teilgenommen.
Die TUI-Stiftung führt bereits seit 2017 die Studie "Junges Europa” durch, welche sich ebenfalls mit den Gedanken und Gefühlen von jungen Menschen befasst. Auch 2023 wurden unter diesem Begriff vom 7.3.2023 bis zum 21.03.2023 junge Menschen in Deutschland, dem Vereinigtem Königreich, Frankreich, Spanien, Italien, Griechenland und Polen befragt. Die Umfrage umfasste 7085 Teilnehmer:innen im Alter von 16 bis 26 Jahren. Für die Analyse wurden die Ergebnisse zusätzlich nach Alter, Geschlecht und Bildungsstand gewichtet, um geringfügige Abweichungen auszugleichen. Ergebnisse, die über alle Länder hinweg ausgewiesen werden, wurden zusätzlich so gewichtet, dass jedes Land mit demselben Gewicht eingeht.
Beide Studien kommen dabei zu größtenteils sehr ähnlichen Ergebnissen: Junge Menschen sehen sich selbst, ihr Umfeld und ihre Zukunft tendenziell eher pessimistisch und es fällt immer mehr von ihnen schwer, Vertrauen in sich selbst und die Welt um sich aufzubringen. Dabei stellen sich die Fragen: Was beschäftigt junge Menschen wirklich? Woher kommt der zunehmende Pessimismus? Worin endet er? Und ist dieser Trend vielleicht noch aufzuhalten?
Die TUI-Studie zeigt: Vor allem die sozialen Unterschiede innerhalb der Gesellschaft beschäftigen die jungen Befragten. Rund drei Viertel von ihnen (74 Prozent) sehen große Unterschiede zwischen den sozialen Schichten in ihrem Land, welche mehrheitlich (60 Prozent) als ungerecht bewertet werden. Die sozialen Unterschiede werden dabei auch unabhängig vom eigenen Lebensstandard als groß wahrgenommen. 70 Prozent sehen dabei den Staat und die Regierung in der Verantwortung, die soziale Ungleichheit auszugleichen. Eine Regierung, von der jedoch mehr als die Hälfte der Befragten angeben, sich in dieser nicht repräsentiert zu fühlen. Rund die Hälfte findet, dass die Interessen von Menschen unter 30 Jahren, Frauen sowie niedrigeren Einkommensklassen in der Regierung stärker vertreten sein sollten. Die Forderung an die Politik: Mehr Veränderung. Sieben von zehn Befragten geben an, Politiker sollten weniger reden und mehr handeln. Grundsätzlich ist in einigen Ländern sogar eine abnehmende Zufriedenheit mit der bestehenden Demokratie zu beobachten.
Die Ergebnisse der Studie zeigen jedoch auch, dass die Jugend demokratische Werte durchaus weiterhin verinnerlicht hat. Die politische Partizipation ist für den Großteil immer noch relevant. Die Mehrheit der jungen Europäer:innen hält Wählen für eine Bürgerpflicht (73 Prozent) und vertraut darauf, dass Wahlen ein effektives Mittel sind, um Dinge zu verändern (57 Prozent). In allen Ländern ist das Vertrauen der Jugendlichen in EU-Institutionen jedoch größer als das Vertrauen in nationale politische Institutionen. Eng verbunden damit: Europäische Jugendliche zeigen insgesamt eine recht hohe Identifikation mit Europa. Mehr als jede:r zweite junge Europäer:in beschreibt sich als zumindest teilweise europäisch. Somit ist ein Trend hin zu einer verstärkten nationalen Identität zu beobachten.
Doch woher kommt das wachsende Misstrauen in die Politik und das Gefühl, von dieser nicht verstanden zu werden? Um dem auf den Grund zu gehen, fragt die TUI-Studie nach: Wie geht es den jungen Menschen in Europa eigentlich?
Die Ergebnisse zeigen: Seit 10 Jahren wird die Einstellung junger Menschen zunehmend pessimistisch. Die Gefühle und Gedanken der Befragten sind sehr geprägt von Ängsten vor dem aktuellen Weltgeschehen. Die hohen Inflationsraten werden vor allem in Spanien, Griechenland und Polen als große Belastung wahrgenommen, aber auch in Deutschland geben insgesamt 68 Prozent an, die Inflation als belastend oder sogar sehr belastend zu empfinden. Je niedriger die Teilnehmer:innen dabei ihren Lebensstandard einschätzen, desto mehr haben sie mit den Inflationsraten zu kämpfen. Doch nicht nur finanzielle Themen bestimmen die Gefühle junger Menschen. Vor allem Sicherheit (64 Prozent), Gesundheit (62 Prozent) und Zeit für Dinge, die Spaß machen (56 Prozent), sind der jungen Generation besonders wichtig für ein erfülltes Leben. Auch eine glückliche Beziehung zu führen und Freundschaften sind für etwa die Hälfte der Befragten relevant. Ein hohes Einkommen (32 Prozent), ein schönes Zuhause (24 Prozent) oder ein hohes Ansehen (14 Prozent) werden dagegen vom Großteil als weniger wichtig eingeschätzt. Den Gefühlszustand anderer Menschen in ihrem Land sehen die Teinehmer:innen ebenfalls mehrheitlich als eher negativ:
Auch die Bepanthen-Studie kommt zu dem Ergebnis, dass das Leben vieler Kinder und Jugendlicher geprägt ist von Ängsten, welche die aktuelle weltweite Situation, vor allem aber ihre Zukunft betreffen. Mehr als zwei Drittel sorgen sich um den Klimawandel (74,1 Prozent), Umweltverschmutzung (69,3 Prozent), Krieg (66,4 Prozent) und Armut (64,1 Prozent). Im Vergleich dazu sind individuelle Sorgen, wie die Angst, keine Partnerschaft zu finden (35,2 Prozent) oder vor einer persönlichen Bedrohung oder Gefahr (42,9 Prozent) eher zweitrangig und werden vor den Sorgen um die Welt zurückgestellt.
Dies könnte daran liegen, dass der Großteil der Jugendlichen stark unterscheidet zwischen der Einschätzung der persönlichen und der gesellschaftlichen Zukunft: Nur rund 4 Prozent der Befragten sehen pessimistisch in ihre eigene, ganz private Zukunft, im Gegenteil bewertet die Aussichten sogar fast die Hälfte als positiv. Eine positive Weiterentwicklung der Gesellschaft sagen hingegen nur 19 Prozent der Jugendlichen voraus, mehr als ein Drittel sieht diese sogar bewusst pessimistisch. „Wir sehen hier eine bemerkenswerte und auch besorgniserregende Entwicklung,“ so Studienleiter Prof. Dr. Ziegler. „Jugendliche vertrauen nur sehr begrenzt in die Lösungskompetenz der Gesellschaft. Wer aber den Glauben an die Gemeinschaft verliert, zieht sich zurück und resigniert.“
Die Bepanthen-Studie stellt in ihrer Auswertung deshalb die These auf, dass einer der Gründe für die pessimistische Sicht auf die Welt und ihre Zukunft einem geringen Vertrauen in sich selbst und in andere zugrunde liegt. Die Ergebnisse der Studie zeigen, dass insgesamt ein Viertel der Jugendlichen nur geringes Selbstvertrauen besitzt. 32,2 Prozent der Befragten geben an, es würde ihnen Schwierigkeiten bereiten, ihre Pläne und Ziele zu verwirklichen, 26 Prozent wissen nicht, wie sie damit umgehen sollen, wenn neue Herausforderungen auf sie zukommen. Außerdem fühlen sich 41,7 Prozent der Jugendlichen manchmal nutzlos und sogar 61,5 Prozent haben häufig Angst, etwas falsch zu machen.
„Im begrenzten Ausmaß sind in der Lebensphase der Pubertät Zweifel an sich und anderen durchaus erwartbar”, heißt es in der Auswertung der Ergebnisse. „Bemerkenswert jedoch ist das Ausmaß des fehlenden Vertrauens in andere bei Teenagern”: Zwei Drittel der Jugendlichen vertrauen anderen Menschen nicht. Etwa jeder zweite Jugendliche meint, wer sich auf andere verlässt, wird ausgenutzt. Weitere 39,6 Prozent glauben nicht, dass die meisten Menschen gute Absichten haben.
Ein Misstrauen, welches sich auch im Vertrauen in Medien und öffentliche Einrichtungen widerspiegelt. Die Bepanthen-Studie zeigt: Mehr als zwei Drittel der jungen Menschen in Deutschland vertrauen weder Zeitungen (75,8 Prozent), noch Journalisten (71,6 Prozent). Mehr als ein Drittel glauben darüber hinaus, dass die Medien absichtlich wichtige Informationen zurückhalten und ausschließlich ihre eigene Meinung verbreiten. Ähnlich misstrauisch stehen die befragten Jugendlichen Behörden und politische Organisationen gegenüber. Jeder zweite Jugendliche hat kein Vertrauen in die Bundesregierung und die Vereinten Nationen. Wissenschaftler und Polizei hingegen genießen mit 76,1 und 79,9 Prozent sehr viel größeres Vertrauen der jungen Generation.
„Das eklatante Misstrauen der Jugendlichen in die Medien, verbunden mit der Annahme, dass diese absichtlich Informationen verschweigen oder nur ihre eigene Meinung verbreiten, halten wir für alarmierend“, so Studienleiter Prof. Dr. Holger Ziegler. „Wir unterscheiden hierbei zwischen Skepsis und Verschwörungsneigung. Eine gesunde Skepsis hinterfragt Informationen, die wir erhalten. Das ist sinnvoll und nützlich im Leben. Stellen wir aber nicht nur den Wahrheitsgehalt einer Information infrage, sondern vermuten wir, dass uns – in diesem Fall – die Medien absichtlich Informationen verschweigen und manipulieren wollen, dann bewegen wir uns in einem gefährlichen Bereich von Verschwörungsglauben.“
Mehr als ein Drittel der Jugendlichen, die wenig Vertrauen in öffentliche Einrichtungen haben, weisen eine starke Anfälligkeit für Verschwörungsgedanken auf. Dies hängt auch mit der bevorzugten Informationsquelle der Jugendlichen zusammen: Während von den Jugendlichen, die ihr Informationen viel aus den sozialen Medien beziehen, ganze 37,6 Prozent eine starke Verschwörungsneigung zeigen, ist diese bei nur 5,4 Prozent derer, die die Öffentlich Rechtlichen zum Informieren bevorzugen.
Am Ende der Auswertung der Bepanthen-Studie findet sich noch ein Appell an die Eltern: Die “Spirale des Vertrauensverlustes” durchbrechen, indem Eltern ihr eigenes Verhalten selbstkritisch reflektieren und die Herausbildung von Vertrauen bei den eigenen Kindern aktiv unterstützen können. Außerdem gilt: Habt Vertrauen in eure Kinder, dann haben sie Vertrauen in sich selbst und die Welt. Denn je mehr Jugendliche das Gefühl haben, dass sie nicht schaffen, was ihre Eltern von ihnen verlangen, desto eher sind sie anfällig für Verschwörungsgedanken.
Auch ihr als Lehrer:innen könnt mit diesem Grundsatz bei Schüler:innen und Eltern ansetzen und versuchen, Selbstvertrauen der Kinder und Jugendlichen und eine Selbstreflexion der Eltern anzuregen. Thematisiert doch beispielsweise die beiden Studien einmal in eurem Unterricht und gebt den Schüler:innen die Möglichkeit, ihre Gedanken und Gefühle zu den Ergebnissen in einem sicheren Rahmen äußern zu können.
Was haltet ihr von den Ergebnissen der beiden Studien? Habt ihr Ideen, wie ihr als Lehrer:innen dazu beitragen könnt, die “Spirale des Vertrauensverlustes" zu durchbrechen? Lasst es uns gerne in den Kommentaren wissen!