Schulen als Ort der Bildung? Viele palästinensische Schulgebäude wurden im Verlauf des Nahostkonflikts geschlossen, zerstört und für andere Zwecke gebraucht. (Quelle: Canva)
Seit Beginn des aktuellen Gaza-Krieges tauchen die Schulen in Gaza und dem Westjordanland wieder häufig in den Schlagzeilen auf. Zumeist sind es Berichte über Zerstörung, Bombenangriffe, Beschuss und Anschläge von und auf palästinensische Schulen und Bildungseinrichtungen, die oftmals zahlreiche Opfer fordern. Obwohl Bildung ein grundlegendes Menschenrecht darstellt, das maßgeblich zur persönlichen Entwicklung und zum gesellschaftlichen Fortschritt beiträgt, bleibt dieses Recht in von Krieg und Besatzung geprägten Regionen allzu oft verwehrt. In unserer Themenwoche “Bildung in Krieg und Krise” richten wir den Blick auf das Bildungssystem in den palästinensischen Gebieten und gehen der Frage nach, inwiefern das Schulsystem während des Krieges funktioniert und vor welchen Herausforderungen die Bildungslandschaft in Palästina steht.
Das moderne Bildungswesen im Westjordanland und Gaza hat seine Wurzeln im Osloer Abkommen, das im September 1993 unterzeichnet wurde und in dessem Rahmen die Verwaltung des Bildungssystems an die Palästinensische Autonomiebehörde (PA) übertragen worden ist. In Folge dessen gründete die PA im Jahr 1994 das erste palästinensische Ministerium für Bildung mit Sitz in Ramallah. Neben der Regierung spielt vor allem das Hilfswerk der Vereinten Nationen für Palästina-Geflüchtete im Nahen Osten (UNRWA) eine bedeutende Rolle im Bildungsbereich, das Bildungseinrichtungen sowohl innerhalb als auch außerhalb der Autonomiegebiete für palästinensische Geflüchtete betreibt. Daher existieren drei Schulformen in Palästina: 1.474 staatliche, 147 private, meist von kirchlichen Trägern, und 253 von der UNRWA gegründete Schulen. Während die Schulen im Westjordanland der PA-Verwaltung unterstehen, kontrolliert im Gazastreifen seit 2006 die islamistische Hamas das Bildungswesen.
Heutzutage tragen in den PA-Gebieten laut der Palästinensischen Mission in Deutschland drei Ministerien die Verantwortung für die Verbesserung der bildungsrelevanten Infrastruktur, die Schulung und Weiterbildung von Lehrkräften, die Standardisierung der Lehrpläne sowie für die Etablierung eines umfassenden Bildungssystems in Palästina: das Ministerium für Bildung, das Ministerium für Höhere Bildung (Hochschulwesen) und das Ministerium für Arbeit. Zwischenzeitlich wurden das Ministerium für Bildung und das Ministerium für Höhere Bildung zusammengeführt und zuletzt 2019 wieder getrennt. Zusätzlich existiert ein Zentrum zur Entwicklung des Curriculums, und im palästinensischen Legislativrat wurde ein Ausschuss gebildet, der sich unter anderem mit bildungsrelevanten Gesetzen befasst.
Sowohl die diplomatische Vertretung Palästinas in Deutschland als auch das katarische Medium Al-Jazeera betonen die zwangsläufig erfolgten Schulschließungen durch die israelische Armee während der beiden Intifadas (1987 und 2000), die den Zugang zu Bildung für Palästinenser:innen versperrte und zu entschlossenen Reaktionen der Bevölkerung in Form von privaten Initiativen und Nichtregierungsorganisationen führte, die sich bis heute für verbesserte Bedingungen in der Bildung einsetzen.
In Palästina gilt eine allgemeine Schulpflicht für Kinder im Alter von sechs bis 15 Jahren. Im Unterschied zu Deutschland, wo ein dreigliedriges Schulsystem besteht, gibt es in Palästina bis zur zehnten Klasse eine einheitliche Schulausbildung. Der weitere schulische Werdegang hängt vom Notendurchschnitt ab, der darüber entscheidet, ob die Jugendlichen eine weiterführende Schule besuchen dürfen. Dort absolvieren sie innerhalb von zwei Jahren das Abitur, auch als Tawjihi bekannt.
Das Abitur in Palästina ist vielfältig gestaltet. Neben dem allgemeinen “akademischen” Abitur, das sich auf Natur- oder Literaturwissenschaften konzentriert, besteht die Möglichkeit, ein Fachabitur in Bereichen wie Wirtschaft, Industrie, Landwirtschaft oder Gesundheitspflege zu absolvieren. Schüler:innen, die das “akademische” Abitur erwerben, können sich im Anschluss an Universitäten einschreiben, während das Fachabitur den Zugang zu einem College-Studium ermöglicht. Seit dem Schuljahr 1994/95 werden die Abiturprüfungen von den zuständigen palästinensischen Behörden durchgeführt.
Ein Schuljahr beginnt immer Ende August oder Anfang September und endet im Mai des folgenden Jahres. Dadurch umfasst das Unterrichtsjahr entweder 210–215 Schultage (mit einem freien Tag in der Woche) oder 175–180 Schultage (mit zwei freien Tagen).
Im palästinensischen Curriculum von 1998, wie in einem UNESCO-Bildungsbericht über Palästina von 2011 festgehalten, wird die Notwendigkeit für Bildungsinhalte betont, die die palästinensische Identität widerzuspiegeln. Es legt außerdem Wert auf die islamische Zugehörigkeit, strebe die Einheit der arabischen und islamischen Welt an und setze sich für die Freiheit Palästinas ein. Der Gebrauch der arabischen Sprache als Kommunikationsmittel werde als grundlegend betrachtet, während auch die Lehre von Fremdsprachen betont wird. Die Auswahl von Wissen, Kultur und Wissenschaft stehe im Fokus, insbesondere in Bereichen wie Technologie, Ökologie und Demografie. Die Ausbildung ziele darauf ab, kritisches Denken zu fördern und ausgewogene Persönlichkeiten zu fördern.
Jedoch kritisierte die israelische NGO IMPACT-se den palästinensischen Lehrplan für das Schuljahr 2020/21. Die Vorwürfe betrafen antisemitische Inhalte, die Ablehnung des Friedens mit Israel und das Fehlen von Toleranz und Koexistenz. Kritiker:innen bemängeln stereotype Darstellungen von Jüdinnen und Juden als korrupt und kontrollierend sowie die Verherrlichung von Personen mit antisemitischen Ansichten. Zudem wird die Förderung von Märtyrertum und dem Dschihad in Gedichten und Texten kritisiert. Die Einbindung von Gewaltdarstellungen in naturwissenschaftliche und mathematische Unterrichtsinhalte wird als unangemessen und politisch motiviert betrachtet. Insgesamt wecken die Vorwürfe Bedenken hinsichtlich der politischen Beeinflussung und des Mangels einer ausgewogenen und friedlichen Lernumgebung. Es sei jedoch angemerkt, dass auch israelische Schulbücher bereits in der Kritik standen, Vorurteile gegenüber der palästinensischen Bevölkerung zu verbreiten, deren Vertreibung 1948 zu verschweigen und diese als Terroristen zu brandmarken.
Die Komplexität und die eigene Betroffenheit spiegeln sich unvermeidlich in den Bildungssystemen der beiden Konfliktparteien wider. Die Herausforderung besteht einerseits darin, einen Ausgleich zu finden, der Frieden, Verständnis und Respekt fördert. Auf der anderen Seite verhindern und erschweren die täglichen Herausforderungen durch den allgegenwärtigen Krieg das Lernen.
Seit mehr als sieben Jahrzehnten befinden sich Israel und Palästina in einem Konflikt, der sich nicht nur in den Bildungsinhalten abzeichnet. Auch auf dem täglichen Schulweg, bei der Beschaffung von Unterrichtsmaterialien und Schuluniformen sowie in den unsicheren Schulgebäuden müssen die Kinder, Eltern und Lehrkräfte teilweise beschwerliche Strapazen auf sich nehmen. Schon seit Jahren bedeutet der jährliche Schulbeginn eine Herausforderung für alle Beteiligten, da beispielsweise die Eltern teuren Schulbedarf und Uniformen beschaffen und die Schulen mit den vom Krieg traumatisierten Kindern umgehen müssen.
Durch die jüngsten Entwicklungen seit dem Überfall der Hamas am 7. Oktober hat sich die Situation noch verschärft. Laut UNICEF sind derzeit alle Schulen in Gaza geschlossen. Viele dieser Schulen dienen jetzt als Notunterkünfte für Geflüchtete, statt Unterricht wird gekocht und geschlafen. Ein weiterer problematischer Aspekt ist die Nutzung der Bildungseinrichtungen von der Hamas als Waffenverstecke und Stützpunkte, was von Israel kritisiert wird. Die Kinder und Jugendlichen sind nach wie vor die Hauptleidtragenden des Konflikts, da ihnen das grundlegende Recht auf Bildung verwehrt wird, und sie gleichzeitig unter der konstanten psychischen Belastung und dem Stress durch die anhaltenden Konflikte leiden.
Das Bildungssystem in den palästinensischen Gebieten ist heute mit zahlreichen Herausforderungen konfrontiert. Diese stammen nicht nur aus den strukturellen Belastungen des Schulsystems unter dem politischen Druck, sondern spiegeln auch die politischen und sozialen Realitäten der Region wider. Denn schon vor dem aktuellen Krieg galt: Ein palästinensischer Abschluss, egal ob in Gaza oder im Westjordanland, ist aufgrund der Staatenlosigkeit der Bevölkerung und der ruinösen wirtschaftlichen Situation nicht viel wert. Im Jahr 2017 lag die Jugendarbeitslosigkeit in Gaza bei 60 Prozent. Die fehlende berufliche Perspektive zählt zu den größten strukturellen Problemen der Bildungslandschaft in den besetzten Gebieten.
Trotz der Bemühungen der PA, der UNRWA und anderer Akteure, Bildung weiterhin zugänglich zu machen, stehen die Kinder und Jugendlichen vor gravierenden Schwierigkeiten. Der andauernde Krieg erschwert nicht nur den Schulalltag, sondern beeinträchtigt auch die psychosoziale Entwicklung der Schüler:innen. Es bleibt zu hoffen, dass sich die internationale Gemeinschaft, lokale Akteure und die Konfliktparteien selbst verstärkt den Schutz und die Förderung des Bildungswesens trotz widriger Umstände in dieser Region einsetzen.