CDU-Politikerin Anja Karliczek bei der Ankündigung der Nationalen Bildungsplattform am 26.04.2021 (Foto: Bundesregierung/ Hans-Joachim Rickel)
630 Millionen Euro – mithilfe dieses beachtlichen Gesamtbudgets sollten die gewaltigen Lücken in der digitalen Bildungslandschaft endlich geschlossen werden. Nationale Bildungsplattform (NBP), so heißt das Mega-Projekt der Bundesregierung, das ab 2025 eine länderübergreifende, digitale und ganzheitliche Vernetzung des Bildungswegs gewährleisten soll. Allerdings stößt dieses Vorhaben auf immense Kritik und droht, ein riesengroßer Flop zu werden. Lehrer-News hat das Projekt etwas genauer unter die Lupe genommen.
„Die Plattform ist Kernstück eines neuen digitalen Bildungsraums für Deutschland und einer Modernisierung der Bildung insgesamt. Als Bundesregierung wollen wir damit für alle Menschen – vom Schulkind bis zum Rentner – in unserem Land den Zugang zu digital gestützten Bildungsangeboten erleichtern und damit verbessern,“ ließ die damalige Bildungsministerin Anja Karliczek (CDU) bei der Ankündigung des Mammutprojektes im April 2021 optimistisch verlauten. Die Idee zur Nationalen Bildungsplattform stammt nicht von Karliczek selbst, Urheberin ist die SPD-Vorsitzende Saskia Esken. Genau wie diese hatte auch Karliczek darauf verzichtet, ihre Vision zu konkretisieren – als „gedanklichen Spielraum zur kreativen Entfaltung“ empfand sie das und zeigte sich ganz begeistert von ihrer eigenen Idee. Dass ihr Nachfolger oder ihre Nachfolgerin ebenfalls ganz begeistert sein werde, daran hegte die CDU-Politikerin keinerlei Zweifel. Auch die Weiterführung durch die neue Bundesregierung sah Karliczek als gegeben, dabei war es Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD), der 2018 in seiner Rolle als ehemaliger Bundesfinanzminister sein Veto einlegte, als es um den Beschluss der CDU-initiierten digitalen Plattform MILLA (Modulares Interaktives und Lebensbegleitendes Lernen für Alle) ging. Doch mit mehr oder minder großen Kollateralschäden überlebte die Idee der Nationalen Bildungsplattform den Regierungswechsel 2021 und soll in der zweiten Jahreshälfte nun endlich als Beta-Version online kommen: Allerdings nur noch als digitale Vernetzungsinfrastruktur und mit einem deutlich geringeren Budget. Doch der Reihe nach…
Zu Beginn unserer Recherche bestand die Kernidee des Projektes noch in einer übergreifenden Meta-Plattform, die alle bereits bestehenden digitalen Bildungsangebote vernetzen sollte. „Mir geht es darum, dass wir die bestehenden und derzeit entstehenden Lernmanagementsysteme und Clouds an den Schulen, seien es Moodle und Open-Source-Lösungen oder kommerzielle Produkte, so zusammenführen, dass die Leute kollaborieren können,“ skizzierte Saskia Esken ihre Idee 2020 dem Newsletter Tagesspiegel Background. Alle gängigen Bildungsangebote – privater und öffentlicher Anbieter – gebündelt an einem Ort für Lehrende, Lernende, Schulen, Hochschulen, Schulbuchverlage – rundum über alle Altersstufen und Bedarfsbereiche hinweg. Dabei orientiert sich die NBP maßgeblich an einem Prototypen der Uni Potsdam, dem sogenannten BIRD-Prototypen. Werfen wir einen Blick auf die einzelnen Komponenten:
Die Ablage – auch Wallet genannt – ist das “Kerngeschäft“ der NBP: Hier sollen alle Nutzendendaten innerhalb der NBP gespeichert werden und zwar nicht in einer Cloud, sondern immer nur direkt auf den Endgeräten der jeweiligen Nutzenden. Auf diese Weise können Zertifikate und Nachweise über Lehrabschlüsse sowie Zwischenstände teilweise bearbeiteter Lernmodule, Materialien, persönliche Profildaten der Nutzenden uvm. gespeichert werden. Dabei ist die Ablage nicht auf bestimmte Dateiformate festgelegt, sondern akzeptiert grundsätzlich alle Formate.
Mithilfe der sogenannten “Basisidentität“ können Nutzende sich authentifizieren und innerhalb der NBP bewegen. Diese Basisidentität soll durch weitere digitale Identitäten ergänzt werden, die etwa von Schulen und Hochschulen bereitgestellt und verwaltet werden sollen.
Eine weitere wichtige Leistung der Plattform besteht neben der Speicherung von Zeugnissen oder anderen Leistungsnachweisen auch in der Verwaltung und Nutzung dieser. Kryptografische Signaturverfahren ermöglichen eindeutig nachweisbare Behauptungen wie z.B. „Ich habe ein Abitur.“
Die Komponente "Metadaten" enthält weder personenbezogene Daten noch Lerninhalte. Vielmehr ist sie der Rahmen dessen, was überhaupt auf der Plattform abbildbar ist und somit das, was man ein “Domänenmodell“ nennen würde. Die Metadaten enthalten also beispielsweise Listen von Studiengängen und Verzeichnisse von Bildungseinrichtungen.
Das Schaufenster ist quasi die Benutzeroberfläche der NBP: Hier werden den Nutzenden Empfehlungen für Weiterbildungsangebote, entsprechende Lernmaterialien und über den “Buddy Finder“ sogar Menschen mit ähnlichen (Such)Interessen angezeigt.
Was die Plattform hingegen nicht leistet, sind eigene Lernprozesse. Bei diesen wird weiterhin auf das Angebot externer Dienstleister zurückgegriffen.
Im Zusammenhang mit der Nationalen Bildungsplattform fällt häufig der Begriff "Single-Sign-On" (SSO). Was sich dahinter verbirgt, ist der ganzheitliche Zugriff auf alle möglichen Funktionen mittels eines einzigen Logins. Im Falle der NBP meldet sich der Nutzende also einmal an und kann dann auf alle bildungsrelevanten Funktionen zugreifen – von der Schule bis zur berufsbegleitenden Weiterbildung.
Die Finanzierung der NBP erfolgt im Rahmen des Deutschen Aufbau und Resilienzplans als Teil der Aufbau- und Resilienzfazilität (ARF) der Europäischen Union (EU). NextGenerationEU nennt sich das 800 Milliarden Euro teure vorübergehende Aufbauinstrument, das die wirtschaftliche Erholung von der Coronavirus-Pandemie vorantreiben und beim Aufbau einer grüneren, digitaleren und widerstandsfähigeren Zukunft helfen soll. Deutschland erhält dabei etwa 25,6 Mrd. Euro aus der ARF, wovon rund 630 Millionen Euro in die nationale Bildungsplattform fließen sollen. Der Kostenvoranschlag des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) beruht auf bisherigen Erfahrungen ähnlicher Produktentwicklungen. Allein für Pilotprojekte zur Einbindung in die NBP sollen rund 145 Millionen Euro locker gemacht werden.
Allen Ambitionen zum Trotz steht das Projekt der Bildungsplattform unter keinem guten Stern: Die Länder zeigen kaum Interesse an der Plattform und der Bundesrechnungshof wirft dem Bund einen Alleingang vor. Ein Alleingang, der in Zukunft teure Konsequenzen nach sich ziehen könnte. Zudem lassen die jüngsten Entwicklungen über eine drastische Kürzung des Gesamtbudgets um vermutlich zwei Drittel auf 210 Millionen Euro an der Ernsthaftigkeit des Projekts zweifeln.
Der Kritikpunkt? Der NBP fehle es an strategischer Ausrichtung und es sei völlig unklar, welche konkreten Ziele die Plattform verfolge und wie sie zu mehr Bildungsgerechtigkeit führen solle: „Ich habe nicht den Eindruck, dass wir an einer Digitalstrategie mitwirken, sondern vielmehr eine To-do-Liste mit ganz unterschiedlichen Aufgaben abarbeiten”, bemängelt etwa Henriette Litta von der Open Knowledge Foundation. Das BMBF hat die Entwicklung der Plattform ohne vorherige Planung und Evaluation zu Kostenumfang und Bedarf in Ländern und Schulen in Angriff genommen. Diese Fehlplanung könnte dem Bund nun teuer zu stehen kommen, da das Projekt droht, ein riesiger Flop zu werden.
Ende September 2023 soll zwar nun eine offizielle Beta-Version der Bildungsplattform auf den Markt kommen, vieles bleibt trotzdem noch unklar: „Die ersten Nutzerinnen und Nutzer können dann Accounts und Wallets anlegen und nach Inhalten suchen. [Die Beta-Version] wird sukzessive ausgebaut und evaluiert. Die Ergebnisse – letztlich die Meinungen der Nutzerinnen und Nutzer – entscheiden mit darüber, wie es mit der NBP weitergeht“, heißt es auf der Seite der Digitalstrategie Deutschland über die weitere Entwicklung der Bildungsplattform in diesem Jahr, über die noch keine klaren Aussagen getroffen werden können. Gerechtfertigt wird dieses Vorgehen vom BMBF mit der Begründung, dass die Plattform als Minimum Viable Product (MVP) entworfen worden ist. Das soll bedeuten, dass für den Anfang ein minimal funktionsfähiges Grundgerüst konzipiert wird, das nach einem möglichst schnellen Feedbackprozess entsprechend weiterentwickelt wird. Basierend auf den Rückmeldungen zur Beta-Version soll die Plattform nächstes Jahr genau diesen Prozess durchlaufen. Dementsprechend könnten auch noch keine verbindlichen Aussagen zu den anfallenden Betriebskosten getroffen werden. Vor diesem Hintergrund bezeichnete Henning Tillmann, Beiratsmitglied der Digitalstrategie, die Plattform als “eine Katastrophe”, zumal es keine Qualitätssicherung oder Moderation der Inhalte gebe und selbst die Zusammenarbeit der Ressorts untereinander an der Plattform nicht effektiv sei.
Im Zuge der massiven Kritik werden viele der versprochenen Features und Inhalte der Plattform zunehmend vom BMBF kleingeredet: Zunächst als “Nationale Bildungsplattform” angekündigt, wurde diese nun zu einer sogenannten “Digitalen Vernetzungsinfrastruktur Bildung” heruntergestuft. „Es gibt sehr viele Bildungsangebote. Diese wollen wir sichtbar und besser strukturiert verfügbar machen”, betonte Johanna Börsch-Supan, zuständige Abteilungsleiterin im BMBF, im Rahmen der Bitkom-Bildungskonferenz im März 2023. Damit reagiert der Bund auch auf die Kritik einer viel beachteten Studie, die im Herbst 2022 von Wikimedia veröffentlicht wurde. Hier wurde u.a. die Planung der öffentlichen Plattform bemängelt, der es an einer entsprechenden Governance-Struktur, einem Betriebskonzept und Qualitätskriterien für anzubindende Bildungsinhalte fehle. Der Vorteil einer Vernetzungsinfrastruktur gegenüber dem Ursprungskonzept: Sie benötigt all dies nicht.
Bereits im vergangenen Jahr äußerte der Bundesrechnungshof scharfe Kritik an dem kompetenzüberschreitenden Handeln des Bundes. Ein besonderer Kritikpunkt ist, dass das nationale Projekt nicht mit den Ländern abgestimmt wurde und sich so mit deren Bemühungen, im Rahmen des Digitalpaktes selbst an solchen Portalen zu arbeiten, überschneidet. Dadurch fehlt es der NBP an einem nachgewiesenen Handlungsplan, was sie unwirtschaftlich macht:
„Das BMBF sollte keine weiteren Haushaltsmittel für die Nationale Bildungsplattform mehr einsetzen, bevor es die haushaltsrechtlichen Grundlagen hierfür geklärt hat. Das BMBF hat entgegnet, dass Wirtschaftlichkeitsbetrachtungen und Betriebskonzepte erst auf Grundlage der noch zu erarbeitenden Projektergebnisse erfolgen können. Der Bundesrechnungshof weist darauf hin, dass vorherige Zielbestimmungen wesentliche Voraussetzung für Wirtschaftlichkeitsbetrachtungen und Betriebskonzepte sind. Der Bundesrechnungshof hält es für grob fahrlässig, dass das BMBF die Wirtschaftlichkeit und Tragfähigkeit erst im laufenden Prozess klären will. Er sieht die erhebliche Gefahr von Förderruinen, für deren Weiterbetrieb es keine Perspektiven gibt. Der Haushaltsausschuss hat die Möglichkeit, die Mittel für die Nationale Bildungsplattform zu sperren", heißt es in dem Bericht des Bundesrechnungshofs an den Haushaltsausschuss des Deutschen Bundestages.
In anderen Worten: Die Plattform ist im Grunde ein Alleingang des BMBF ohne Koordinierung mit den Ländern, ohne eine Prüfung der Voraussetzungen und ohne auf die bereits bestehenden Infrastrukturen zurückzugreifen – gleichzeitig werden 630 Millionen Euro Fördermittel für ein Projekt bereitgestellt, das im Sande verlaufen könnte.
Obwohl sich die Bildungsplattform als digitales Bildungsprojekt an Deutschlands Schulwesen richtet, kann sie auf kein großes Interesse seitens der Länder hoffen: Diese haben selbst eigene Arbeit geleistet und digitale Bildungsangebote für ihre Schulen entwickelt oder zumindest geplant. Auch das Single-Sign-On Feature, der eigentliche Glanzpunkt der NBP, verblasst neben dem “Vermittlungsdienst für das digitale Identitätsmanagement an Schulen” (VIDIS). Hinter VIDIS verbirgt sich ein SSO der Länder, welches schon seit einiger Zeit erfolgreich im Probebetrieb läuft. Für die NBP ist das problematisch, da alle Kultusministerien der Länder an einem Strang ziehen müssten, um das Angebot des Bundes in den Schulen verankern zu können. Von diesem Schritt sind sie allerdings noch meilenweit entfernt, da hier keine Notwendigkeit für ein bundesweites Vernetzungsangebot in der Bildung gesehen wird – auch auf Seiten der Kultusministerkonferenz (KMK). Vielmehr werden die eigenständigen Projekte der Länder hervorgehoben: “Alle Länder verfügen für Schulen über leistungsfähige, dynamische Cloud-Infrastruktur in Form von Online-Lehr-Lernumgebungen, die virtuelle und hybride Unterrichtsformen ermöglichen”, heißt es von der KMK auf Anfrage des Tagesspiegels Background. Zudem seien einige der Projekte länderübergreifend strukturiert, sodass hier an gemeinsamen Schnittstellen und Netzwerkplattformen von Inhalten gearbeitet werde, die Identitätsmanagement und Mediendatenbanken integrieren. Während die Länder also bereits an technischen Lösungen für eine Bildungsplattform arbeiten und sich hier untereinander vernetzen, ist die NBP „ein Projekt des Bundes, das bisher ohne Einbindung der Länder entwickelt wird.”
Da stellt sich zwangsläufig die Frage: Wer braucht eine Nationale Bildungsplattform, wenn bereits ähnliche Projekte in den Ländern umgesetzt werden und sogar aktiven Einzug in die Schulen erhalten? Bund und Länder haben bis dato keine gemeinsame Antwort und blockieren sich stattdessen gegenseitig. Das Angebot der Länder an den Bund lautet: Der BMBF könne sich gerne an ihren Vernetzungsprojekten beteiligen – andersherum vertritt auch der Bund das gleiche Argument gegenüber den Ländern und betont den großen Mehrwert der Plattform, von der besonders die Schüler:innen profitieren würden. Wie diese gegenseitige Blockade in Zukunft gelöst werden könnte, bleibt weiterhin abzusehen. Bislang fehlen den Ländern konkrete Angebote vom Bund, wie sie „die auf Länderseite etablierten Strukturen systemisch in die Nationale Bildungsplattform integrieren können”, sagte Udo Michallik, Generalsekretär der KMK. Schon die Bundes-Schulcloud hat gezeigt, dass bei den Ländern kein Bedarf für eine übergeordnete Infrastruktur seitens des Bundes besteht, weswegen nun auch dieses Projekt einer nationalen Vernetzungsstruktur das gleiche Schicksal ereilen könnte. Gleichzeitig zeigt das Projekt ähnlich wie der Digitalpakt Schule, mit welchen Herausforderungen und Schwierigkeiten geplante Fortschritte innerhalb der digitalen Bildung konfrontiert werden.
Im Zuge ihrer Kritik haben die Verantwortlichen der Wikimedia-Studie zwei Lösungsvorschläge vorgestellt, die einen maßgeblichen Einfluss auf die weitere Entwicklung der Bildungsplattform haben könnten: Option “Neustart” stellt alle bisherigen Entscheidungen grundlegend auf den Prüfstand und entwirft einen Fahrplan für eine neue Bildungsplattform. Option “Reform” arbeitet mit den aktuellen Gegebenheiten und macht Vorschläge für dringende Korrekturen und Weiterentwicklungen wie eine gemeinwohlorientierte Vision, die Formulierung konkreter Ziele sowie der Überarbeitung der technischen Umsetzung und des bisherigen Sicherheitskonzepts. Diese Optionen wären mögliche Reaktionen der Projektverantwortlichen der Bildungsplattform, um dem Ziel der Plattform und Verantwortung für die Zukunft der digitalen Bildung in Deutschland gerecht zu werden – ob und wie diese aufgenommen werden und wie sich die Plattform in Zukunft weiterentwickelt, wird sich spätestens nach der Veröffentlichung der Beta-Version im September dieses Jahres zeigen. Eins steht jedoch fest:
Ob Nationale Bildungsplattform oder digitale Vernetzunginfrastruktur, ob 630 Millionen Euro oder 210 Millionen Euro – der Bund steuert auf beachtliche Fehlinvestitionen bei der Digitalisierung des deutschen Bildungswesens zu, sollten sich BMBF und KMK über eine Zusammenarbeit nicht einig werden. Denn ohne Beteiligung der Länder und der Integration bestehender Lernplattformen fehlt letztlich eine der wichtigsten Komponenten in der individuellen Lernbiographie: die Schule.
Autorinnen: Carolin Kremer und Katalin Gébl