Wie weiter nach den wenig überraschenden Ergebnissen der Pisa-Studie? KMK-Präsidentin Katharina Günther-Wünsch (CDU, hinten rechts), zeigt sich besorgt. (Quelle: Commons)
In Deutschland sprechen verschiedene Medien nach der Veröffentlichung der aktuellen Pisa-Studie von einem neuen “Pisa-Schock”. Dabei kommen die schlechten Ergebnisse (Lehrer News berichtete) der Schüler:innen laut Expert:innen überhaupt nicht überraschend. Die plötzliche Umtriebigkeit der Politik in Folge der Studie wird von vielen Akteuren angesichts der seit Jahren aufgezeigten Missstände und knappen Mitteln für Bildung und Integration als scheinheilig angesehen. Wir haben für euch die wichtigsten Reaktionen aus Politik, Wissenschaft und der Lehrkräfte-Community auf die schlechtesten Pisa-Ergebnisse seit 23 Jahren zusammengefasst.
Die Veröffentlichung neuer Pisa-Studien wird alle drei Jahre von Politiker:innen zum Anlass genommen, um längst überfällige Forderungen für das deutsche Bildungssystem zu stellen. Das Bundesbildungsministerium selbst hat schnell auf die neuen Ergebnisse der Pisa-Studie reagiert und damit gezeigt, dass die Regierung die Pisa-Studie ernst nimmt. Die Präsidentin der Kultusministerkonferenz, Katharina Günther-Wünsch (CDU), sagte dazu: „Die Ergebnisse der PISA-Studie 2022 sind besorgniserregend [...]. Eine zunehmend heterogene Schülerschaft stellt das Schulsystem und auch die Lehrkräfte vor enorme Herausforderungen. Zudem zeigen sich weiterhin die Auswirkungen der pandemiebedingten Einschränkungen und Schulschließungen. Und wir stehen vor der Herausforderung, sicherzustellen, dass jede Schule die notwendigen Mittel erhält, um eine hochwertige Bildung zu gewährleisten. [...] Die KMK schärft derzeit ihre Empfehlungen für die Grundschulen und bereitet eine deutliche Stärkung des Deutsch- und Mathematikunterrichts vor. Wir brauchen insbesondere eine gezielte Sprachförderung, die in der Frühen Bildung ansetzt und die Lernenden länger begleitet. Die Ergebnisse verdeutlichen zudem, dass die Jugendlichen mit Zuwanderungshintergrund, besondere Unterstützung benötigen”.
Bildungsministerin Bettina Stark-Watzinger (SPD) sprach sich dafür aus, Bildung bundespolitisch höher zu priorisieren und als Bund die Länder "massiv zu unterstützen". "Der Handlungsbedarf im Bildungssystem könnte größer nicht sein", so die Ministerin.
Schleswig-Holsteins Bildungsministerin Karin Prien (CDU) sieht „dringenden Handlungsbedarf", sagte sie im Deutschlandfunk. “Es ist ein miserables Ergebnis und das muss nicht nur nüchtern analysiert werden, sondern auch Konsequenzen haben“, so Prien. Sie fordert, dass die basalen Kompetenzen stärker gefördert werden müssten, auch schon in der Kita.
Weitere Reaktionen auf die neue Pisa-Studie kommen auch aus anderen Bundesländern. Die Kultusministerin von Baden-Württemberg, Theresa Schopper, hat dazu ein Statement rausgegeben. Sie sieht in den neuen Ergebnissen bestätigt, dass Deutschland bei der Digitalisierung hinterherhinkt. Die Corona-Pandemie hätte hier zwar “einen regelrechten Online-Booster” ausgelöst. Nun sei es wichtig, diesen Schwung auch beizubehalten. Hier seien Bund, Länder und Kommunen gemeinsam gefragt. Dafür fordert sie, dass der Digitalpakt fortgesetzt werden müsse. Dessen Anschlussfinanzierung steht immer noch in Frage.
Auch Bundeslandwirtschaftsminister Cem Özdemir von den Grünen verwies in seiner Reaktion besonders auf Jugendliche mit Migrationshintergrund und zog hierzu seine eigene Geschichte heran. Ihm hätte beispielsweise ein bedingungsloses Grundeinkommen und damit Geld für seine Eltern nicht geholfen, so der Grünen-Politiker, der ein Kind türkischer Arbeiter ist. „Was uns aber geholfen hätte, wären eine Kita und eine Ganztagsschule gewesen, die den Namen verdient, mit einem gesunden und vollwertigen Mittagessen”, sagte Özdemir gegenüber dem Redaktionsnetzwerk Deutschland.
Der Vorsitzende des Bundestagsbildungsausschusses, Kai Gehring (Grünen), fordert eine Sonder-Ministerpräsidentenkonferenz der Länder einzuberufen, um schnell Maßnahmen auf den Weg zu bringen. Auch von Gewerkschaften und Interessenverbänden gibt es kritische Reaktionen auf die Veröffentlichung der neuen Pisa-Ergebnisse. Wie die aussehen, könnt ihr hier bei Lehrer News nachlesen.
Der Soziologe Aladin El-Mafaalani zeigt sich wie viele seiner Kolleg:innen wenig überrascht von den Ergebnissen der neuen Pisa-Studie. Gegenüber dem Stern sagte er: "Diesen Trend beobachten wir seit rund zehn Jahren. Corona hat ihn lediglich verstärkt. Das deutsche Schulsystem ist heruntergewirtschaftet, es fehlen Fachkräfte. Und die Migration hat zugenommen. In den Ballungsräumen hat mittlerweile die Mehrheit der Kinder in Kitas und Grundschulen einen Migrationshintergrund. Dort werden in den Grundschulen 20 verschiedene Sprachen gesprochen. Wir brauchen so etwas wie ein Sondervermögen für die Bildung von 100 Milliarden Euro."
„Die schlimmste Nachricht ist, dass dieses Ergebnis niemanden mehr überrascht“, kommentierte Stefan Spieker, Geschäftsführer von Fröbel Bildung und Erziehung, gegenüber dem Tagesspiegel. Er hält die Reaktionen der Politik auf die jüngsten Pisa-Meldungen für scheinheilig und stellt die Frage, warum „ein Bundesprogramm wie die Sprach-Kitas gestoppt und nicht etwa ausgebaut“ wird.
Im Zuge der neuen Erkenntnisse des OECD steht auch das Pisa-Studiensystem an sich wieder in der Kritik. Hier werden die unzureichende Vergleichbarkeit zwischen den Ländern, die intransparente Vorgehensweise des OECD und der eingeschränkte Fokus auf die drei Bereiche Mathematik, Lesen und Naturwissenschaften genannt. Es gibt dieser Tage aber auch Stimmen, die sich explizit für die Nützlichkeit der Pisa-Studien aussprechen. Zu ihnen gehört Bildungsforscher Kai Maaz vom Leibniz-Institut für Bildungsforschung und Bildungsinformation in Frankfurt. Der Vorteil sei gerade der internationale Vergleich, den PISA alle drei Jahre ermögliche, der Blick über Deutschland hinaus und die Feststellung, wo wir da gerade stünden. Das Monitoring sei durchaus spannend, allerdings sollte man da dann nicht stehenbleiben. Er meint, dass jetzt gefragt werden muss, wie man an dieser Stelle gelandet ist und wo das nun hinführe. Dabei sei es durchaus hilfreich zu sehen, wie andere OECD-Länder mit ähnlichen Problemen darauf reagierten.
Ein Ansatz, der in der neuen Pisa-Studie als erfolgreicher Weg anderer Länder, wie etwa Estland, angesehen wird, ist ein konsequenter und angemessener Weg bei der Digitalisierung. Pisa-Studienleiterin Doris Lewalter zeigt hier das Ungleichgewicht beim Thema auf: "Die Zeitkontingente für die entsprechende Unterrichtsvorbereitung und das Personal für den technischen Support liegen an deutschen Schulen deutlich unter dem OECD-Durchschnitt. Unterm Strich wird das potenzielle Angebot an vielfältigen digitalisierungsbasierten Lernformen im Unterricht kaum ausgeschöpft. In ihrer Freizeit nutzen die Fünfzehnjährigen digitale Medien zum Teil in sehr hohem Umfang auch für lernbezogene Aktivitäten. Im Vergleich zum OECD-Durchschnitt schätzen die Schülerinnen und Schüler ihre Selbstwirksamkeit im Umgang mit digitalen Medien jedoch deutlich niedriger und ihre Motivation, mehr über digitale Medien lernen zu wollen, signifikant höher ein”, sagte sie dem Magazin Campus Schulmanagement.
Bildungsinfluencer Bob Blume zeigte sich im Interview bei Deutschlandfunk Nova vom schlechtesten Abschneiden deutscher 15-Jähriger seit Beginn der Pisa-Studien in Deutschland geschockt. Gleichzeitig führt er aus, dass man in Deutschland “eine Bildungskatastrophe nach der anderen erleben” würde. Er fordert eine Kehrtwende in der deutschen Bildungspolitik. Blume stellt die Ergebnisse in einen gesamtgesellschaftlichen Zusammenhang. Die Ergebnisse wären hierzulande besonders heftig, weil Deutschland als rohstoffarmes Land nichts anderes hätte, als die Bildung. Um die größer werdende Bildungsungerechtigkeit zu bekämpfen, die auch die Pisa-Studie nochmal bestätigt hat, fordert Blume Maßnahmen im frühkindlichen und Grundschulbereich. Das Startchancen-Programm der Bundesregierung, welches im nächsten Jahr starten wird, sei ein guter Ansatz. Die angesetzten Investitionen würden aber nicht ausreichen.
Unter unseren Beiträgen zur Pisa-Studie bei Instagram haben verschiedene Mitglieder der Community kommentiert und Forderungen für das deutsche Bildungssystem und Kritik an der Pisa-Studie an sich geteilt. “Lehrer4u” stellt in Reaktion auf die Kritik des Philologenverbandes beispielsweise die Frage, ob “der Fokus auf mehr Fachunterricht” wirklich das sei, was man brauche. “Waldschrat_taunus” sieht die strukturellen Probleme vor allem in der Struktur des deutschen Bildungsföderalismus: “Schafft endlich diesen Unsinn von 16 Kultusministerien ab und steckt das dann zur Verfügung stehende Geld direkt in die Schulen.” Instagram-User “der_laehrer” findet den Fokus auf die 15-jährigen Schüler:innen bei den derzeitigen Meldungen in deutschen Medien unangemessen. “Nicht Schüler/15-Jährige schneiden schlecht ab, sondern das deutsche Bildungssystem. Ein Bildungssystem, das seit Jahren kaputt gespart wird.”
Die hier aufgelisteten Reaktionen sind nur eine kleine Auswahl. In ganz Deutschland haben sich noch deutlich mehr Menschen und Organisationen zu der neuen Pisa-Studie geäußert. Dieser Artikel hat lediglich den Anspruch, einen kleinen Überblick über die sich jetzt anschließende Diskussion zu dem Thema zu geben. Was haltet ihr von den Ergebnissen – und der laufenden Debatte? Kommentiert gerne unter diesem Beitrag!