Das Thema Alphabetisierung ist immens verwoben mit dem Aspekt der digitalen Chancengleichheit. Bildungsferne Bevölkerungsgruppen drohen ohnehin durch die zunehmende Digitalisierung aller Lebensbereiche abgehängt zu werden. Analphabeten haben den Anschluss scheinbar bereits verloren.
Die Ergebnisse einer repräsentativen Bevölkerungsbefragung zeigen, dass bildungs- und schriftferne Bevölkerungsgruppen mit zunehmender Digitalisierung benachteiligt werden, schlichtweg weil sie Anforderungen gegenüberstehen, denen sie faktisch nicht gewachsen sind. Allen voran Menschen mit Lese- und Schreibschwierigkeiten kommen bei der Digitalisierung des Alltags nicht hinterher. Die Corona-Pandemie war ein beschleunigendes Moment für die Verschiebung von ehemals analogen Alltagsaktivitäten wie Einkaufen, Familientreffen, Lernen oder Fitnesstraining in den digitalen Raum. Die zunehmende Bedeutung der Digitalisierung und ihre schier unbegrenzten Möglichkeiten wurden den Menschen in den letzten Jahren besonders klar vor Augen geführt.
Lernen und Arbeiten können viele Menschen innerhalb der eigenen vier Wände. Der Online-Handel aller Branchen und Waren rückt immerfort in den Fokus. Zahlreiche Anforderungen, die bis dato auch persönlich erfolgen konnten, wurden teils digitalisiert. Darunter fallen unter anderem Behördengänge, Bestellungen im Restaurant, Terminvereinbarungen oder Einkäufe. Selbst einfachste Alltagsaufgaben verlangen online meist Lese- und Schreibkompetenzen. Diese Verlagerung in den digitalen Raum führt dazu, dass sich wegen unterschiedlicher Zugangschancen und Verständnisebenen die Ungleichheit verschärft. Beispielhaft hierfür sind die Ergebnisse einer Studie, bei welcher knapp 40 Prozent jener Personen, die nicht gut lesen und schreiben können, angaben, mit Online-Wohnungsbörsen Probleme zu haben. 40 Prozent der Betroffenen fühlen sich außerdem nicht dazu in der Lage, Online-Banking zu nutzen. Ein ähnliches Bild ergibt sich bei der digitalen Arbeitsplatzsuche und der Nutzung von Partnerbörsen. Besonders bedeutsam: 40 Prozent der Befragten mit einfacher Bildung hatten mehr Befürchtungen als Hoffnungen bei den sich anbahnenden Fortschritten in der Digitalisierung und ihren Auswirkungen. Im Gegensatz dazu steht eine Quote von 28 Prozent bei den Hochgebildeten. Die ehemalige Bundesbildungsministerin Anja Karliczek (CDU) bezeichnete Lesen demnach nicht grundlos als das Tor zur digitalen Welt.
Ein viergliedriges Konzept versteckt sich hinter dem Oberbegriff “Digitale Kompetenz”. Die darunter verstandenen Kernkompetenzen werden im Folgenden exemplarisch aufgeführt.
Ein Basisverständnis zur Nutzung von Hard- und Software, um auf digitale Informationen zugreifen und Informations- und Kommunikationstechnologien effektiv handhaben zu können. Bei Analphabetismus können beispielsweise selbst Menüs kaum navigiert werden, weder Einstellungen modifiziert noch Anweisungen des Computers befolgt werden.
Die Fähigkeit, digitale Informationen effizient (wieder-)zu finden und systematisch zu sortieren bzw. zusammenzufügen. Mit einer ungenügenden Lesekompetenz kann beispielsweise das Ausfindigmachen des nächstbesten medizinischen Spezialisten oder anderer Dienstleistungen zur unlösbaren Herausforderung werden.
Die Fähigkeit, neue Informationen aus digitalen Ressourcen und mit digitalen Anwendungen zu generieren.
Fähigkeit, die Qualität und Relevanz von Informationen kritisch zu hinterfragen und zu beurteilen.
Von Analphabetismus Betroffene und dem bildungsfernen Teil der Bevölkerung fällt es zum Beispiel vergleichsweise schwer, die Glaubwürdigkeit von Online-Informationen einzuschätzen (Evaluate). Sie haben Schwierigkeiten dabei, Artikel von Werbung zu unterscheiden. Folglich überrascht es nicht, dass Erwachsene mit Lese- und Schreibschwierigkeiten anfälliger für Falschinformationen sind. Dies erlangt besondere Relevanz, wenn man bedenkt, dass laut LEO-Studie Erwachsene mit niedrigen Schriftsprachkompetenzen überdurchschnittlich häufig soziale Medien nutzen. Da sie weniger in der Lage sind, ihren Nachrichtenkonsum quellenkritisch zu gestalten, müssen ihnen die Grundlagen der Internetnutzung vermittelt werden – ähnlich wie es neuerdings den Kindern in Schulen beigebracht wird. Hinsichtlich der digitalen Chancenungleichheit an Schulen lässt sich allerdings ein ganz neues Tab öffnen. Während nämlich die Kinder in der sechsten Klasse noch über sehr ähnliche digitale Kompetenzen verfügen, sind in der neunten Klasse bereits deutliche Unterschiede messbar. Die Schere öffnet sich demnach bereits während der Schulzeit.
Es liegt auf der Hand, dass die Medienkompetenz von gering Literalisierten verbessert werden muss. Menschen mit geringen Digitalkompetenzen sind in ihrem Alltag stark und sichtlich eingeschränkt. Das nimmt von Tag zu Tag zu. Personengruppen, die nicht gut lesen und schreiben können, die generell dem bildungsfernen Milieu entsprechen und/oder einen Migrationshintergrund haben, geben ihr Defizit häufig von Generation zu Generation weiter. Fehlende Möglichkeiten, um einen Umgang im digitalen Raum zu ermöglichen, spielen ebenfalls eine Rolle. Dahingehend ist es kaum verwunderlich, dass aufgrund der Digitalisierung die Chancenungerechtigkeit im Bildungsbereich weiter wächst.
Die Bildungspolitik vernachlässigt dieses Thema und kehrt es unter den Tisch. Die Parteien selbst beklagen – unterschiedlich stark nuanciert – die Chancenungerechtigkeit im Bildungsbereich und gehen – unterschiedlich stark nuanciert – dagegen vor. Niemand ist willens, radikale Chancengerechtigkeit im Bildungsbereich (unter anderem auf digitaler Ebene) zu realisieren. Zwar informiert das Bundesministerium für Bildung und Forschung Erwachsene regelmäßig via Facebook und YouTube über aktuelle Angebote, Alltagshilfen und persönliche Erfolgsgeschichten von Lernenden; zwar wird versucht, bei Digitalisierungsprozessen an Schulen die gesamte Schülerschaft einzubeziehen, jedoch sind diese Maßnahmen und Mechanismen nicht ansatzweise ausreichend, um einer zunehmenden digitalen Chancenungleichheit sowohl innerhalb der jungen als auch innerhalb der erwachsenen Bevölkerungsschichten entgegenzuwirken und zu verhindern, dass Teile der Gesellschaft in digital diskriminierten Lebenswelten verkehren.