Kommentar: Gendern in der Bildung – zwischen Inklusion und Irritation

Alt-Text: Zwei Vögel auf einem Ast mit ausgebreiteten Flügeln

Wer schreit, hat nicht automatisch recht: Die Debatte um gendergerechte Sprache ist nicht nur eine Auseinandersetzung, sondern auch ein Dialog, der gehört werden muss. (Quelle: Canva)

Dieser Artikel ist ein Kommentar unserer Redakteurin und stellt ihre persönliche Meinung dar. Er spiegelt nicht zwangsläufig die Ansichten der gesamten Redaktion wider. 

Im ersten Teil dieses Kommentars habe ich einen Überblick über die Entstehung und Entwicklung der Debatte um gendergerechte Sprache gegeben und dargelegt, warum diese Diskussion nicht nur gerechtfertigt, sondern notwendig ist. Doch damit allein ist es nicht getan. Die Debatte ist oft festgefahren und emotional überladen, was einer sachlichen Auseinandersetzung im Weg steht. Deshalb möchte ich die Pro- und Contra-Argumente zur gendergerechten Sprache im Kontext von Schule und Bildung gegenüberstellen – mit dem Ziel, die Diskussion wieder auf den Weg einer konstruktiven Auseinandersetzung zu bringen.

Am Anfang war ein Leserbrief

Warum habe ich mich überhaupt entschieden, mich in gleich zwei Kommentaren diesem doch recht heiklen Thema zu widmen? Zum einen liegt es in der Natur meines Studiums. Als Germanistikstudentin setze ich mich intensiv mit Sprache auseinander – und Gendern lässt sich dabei schlicht nicht ausblenden. Sprache ist schließlich nicht nur ein Werkzeug, sondern prägt, wie wir die Welt wahrnehmen und verstehen. 

Zum anderen gab es einen ganz konkreten Anlass für diese geistigen Ergüsse. Wir erhalten regelmäßig Zuschriften über Social Media oder direkt in die Redaktion. Die meisten betreffen inhaltliche Themen unserer Berichterstattung oder Vorschläge solcher. Doch in einem Fall ging es ganz explizit um das Gendern, und diese Rückmeldung brachte mich zum Nachdenken. Was mich dabei beschäftigt hat, möchte ich gerne mit euch teilen.

Die Zuschrift bezog sich auf eine Kurzmeldung, die ich kurz zuvor verfasst hatte. Der Verfasser kritisierte meine Verwendung von z.B. “Drittklässler:innen” und “Schüler:innen”. Er argumentierte, dass diese Formen die Verständlichkeit, Lesbarkeit und Übersetzbarkeit beeinträchtigen. Dabei bezog er sich auf die Pressemitteilungen des Rats für deutsche Rechtschreibung von 2021 und 2023, wonach Sonderzeichen innerhalb von Wörtern kein Bestandteil des amtlichen Regelwerks sind. Weiterhin stellte der Verfasser die Frage, warum wir nicht in den Überschriften gendern, wenn wir es im Text für so wichtig halten. Die Kritik gipfelte in der Anmerkung, dass, wenn wir uns nicht konsequent an das Regelwerk halten, die Person daran zweifelt, ob wir Lehrkräfte, Schüler und Eltern bei der Bewältigung der schulischen Herausforderungen unterstützen können. 

Wie gesagt: Die Debatte ist hitzig

Puh, da musste ich erstmal durchatmen. Solch detaillierte und mehr oder weniger konstruktive Mails erhält man ja nicht alle Tage. Der eigentliche Inhalt der Kurzmeldung rückte sehr in den Hintergrund. Da ich zumindest in Teilen nachvollziehen kann, woher die angesprochenen Punkte rühren, möchte ich sie gerne einmal erläutern. Warum gendern wir? Ganz einfach: Wir haben uns als Redaktion und ZDB bewusst dazu entschieden. Es ist eine Grundsatzentscheidung, die wir getroffen haben, weil wir davon überzeugt sind, dass Sprache Sichtbarkeit schafft und zur Inklusion beiträgt. Ist uns bewusst, dass wir damit gegen Teile des amtlichen Regelwerks verstoßen? Selbstverständlich wissen wir das. Wir (genauer gesagt ich) haben ja auch schon über diese Festlegungen berichtet. Sollten wir deswegen gleich von der Sprachpolizei verhaftet werden? Wohl kaum. Uns ist klar, dass das Gendern mit Sonderzeichen derzeit nicht im amtlichen Regelwerk verankert ist, aber das hält uns nicht davon ab, unsere redaktionelle Freiheit zu nutzen.

Und warum gendern wir nicht in Titeln und Zwischenüberschriften? Nun, hier kommt die Technik ins Spiel. SEO-technisch ist es leider nicht möglich, in diesen Bereichen zu gendern, ohne die Auffindbarkeit unserer Artikel einzuschränken. Wenn wir das täten, würden uns weniger Menschen lesen oder überhaupt finden – und das wollen wir natürlich nicht. Für uns ist das eine technische Hürde, keine inhaltliche Abweichung von unseren redaktionellen Prinzipien.

Zurück zum Thema

Bevor wir zu den Pro- und Contra-Argumenten kommen: Warum dieser Exkurs über Leserzuschriften und redaktionelle Entscheidungen? Die Zuschrift, die mich zu diesem Kommentar inspiriert hat, war nicht nur eine kurze Rückmeldung, sondern eine ausführliche und sehr bestimmte Kritik. Sie setzte sich intensiv mit sprachlichen Normen auseinander, forderte Konsequenz und stellte unsere redaktionellen Prinzipien infrage. Solche Zuschriften spiegeln wider, wie festgefahren die Debatte häufig geführt wird: Zwischen klarer Zustimmung und entschiedener Ablehnung bleibt oft wenig Raum für Zwischentöne. Doch gerade diese Rückmeldungen sind wertvoll, weil sie die unterschiedlichen Perspektiven und die emotionale Natur dieser Diskussion beleuchten – und sie verdeutlichen, warum es wichtig ist, die Debatte zurück in sachliche Bahnen zu lenken.

Warum wir gendern sollten

Sprache formt unser Denken

Sprache spiegelt die gesellschaftliche Wirklichkeit wider – und diese besteht nicht nur aus Männern, sondern ebenso aus Frauen und nicht-binären Menschen. Gendergerechte Sprache schafft (im besten Fall) Sichtbarkeit für all diese Gruppen und trägt so zu gleichberechtigter Repräsentation bei. Im Bildungsbereich, wo junge Menschen lernen, die Welt zu verstehen, ist es essenziell, diese Vielfalt auch sprachlich zu verankern. Schulen und Universitäten tragen die Verantwortung, den gesellschaftlichen Fortschritt hin zu mehr Gerechtigkeit zu fördern und dabei alle Geschlechter einzubeziehen.

Gleichberechtigung durch sprachliche Repräsentation

Gendergerechte Sprache ist nicht einfach eine “politische Agenda”, sondern eine Frage der Gerechtigkeit. Wenn in Schulen und Universitäten konsequent alle Geschlechter sprachlich berücksichtigt werden, trägt dies zur Gleichberechtigung bei. Das generische Maskulinum lässt Frauen und nicht-binäre Personen oft unsichtbar erscheinen, während gendergerechte Sprache ihnen einen Platz in der gesellschaftlichen Wahrnehmung sichert. Sprache prägt unsere Wahrnehmung, und durch eine bewusste Verwendung von gendergerechten Formen kann die Sichtbarkeit gestärkt werden.

Aufbrechen von Geschlechterklischees 

Gendergerechte Sprache hilft dabei, traditionelle Geschlechterstereotypen abzubauen. Gerade im schulischen Kontext, wo Normen und Rollenbilder vermittelt werden, spielt die Sprache eine wichtige Rolle. Es gibt Studien, die darauf hindeuten, dass Mädchen und junge Frauen durch gendergerechte Sprache eher Berufe in Betracht ziehen, die traditionell als männlich gelten. So wird durch die Sprache ein Umfeld geschaffen, in dem alle Geschlechter gleiche Chancen und Möglichkeiten haben.

Den Weg für eine inklusive(re) Gesellschaft ebnen 

Bildungseinrichtungen haben die Aufgabe, junge Menschen auf eine pluralistische und inklusive Gesellschaft vorzubereiten. Gendergerechte Sprache fördert nicht nur die Gleichberechtigung, sondern auch das Bewusstsein dafür, dass Geschlecht ein Spektrum ist und nicht auf binäre Kategorien beschränkt werden kann. Durch die sprachliche Repräsentation aller Geschlechter lernen Kinder, Jugendliche und Studierende, dass Vielfalt ein zentraler Bestandteil unserer Gesellschaft ist und respektiert werden muss.

Warum wir nicht gendern sollten

Keine sofortige Verbesserung gesellschaftlicher Ungleichheiten

Gendergerechte Sprache allein wird die tief verwurzelten Ungleichheiten in der Gesellschaft nicht lösen. Zwar sorgt sie für sprachliche Sichtbarkeit, doch reale Probleme wie Lohnungleichheit oder Diskriminierung in der Arbeitswelt werden dadurch nicht automatisch behoben. Worten müssen Taten folgen. Allerdings kann gendergerechte Sprache als erster Schritt verstanden werden, der die Grundlage für tiefgreifendere gesellschaftliche Veränderungen legt. Sie ist ein wichtiges Signal, aber nur ein Teil einer umfassenderen Lösung.

Komplexität und Lesbarkeit

Ein häufig geäußerter Kritikpunkt ist, dass gendergerechte Sprache Texte komplizierter und schwerer lesbar macht. Dies kann besonders im Bildungsbereich problematisch sein, wo es darauf ankommt, dass Lerninhalte schnell und einfach verstanden werden. Der Genderstern oder der Doppelpunkt stören den Lesefluss und lenken vom eigentlichen Inhalt ab. Zudem wird die Barrierefreiheit erschwert, da Menschen mit Seheinschränkung oder Lernschwierigkeiten Probleme haben können, gegenderte Texte korrekt zu erfassen. In einem Bereich wie Bildung, wo es auf Klarheit und Zugänglichkeit ankommt, ist dies ein wesentlicher Nachteil. Besonders für Lernende, deren Muttersprache nicht Deutsch ist, erschwert Gendern das Verständnis.

Überbetonung des Geschlechts

Ein weiterer Kritikpunkt ist, dass gendergerechte Sprache das Geschlecht in den Vordergrund rückt, auch in Kontexten, in denen es irrelevant ist. Im Bildungsbereich, wo es oft um neutrale Wissensvermittlung geht, könnte die ständige Hervorhebung des Geschlechts ablenkend wirken. Dadurch könnte die eigentliche Botschaft des Unterrichts in den Hintergrund treten, während der Fokus auf der Formulierung bleibt.

Praktische Umsetzbarkeit

Gendergerechte Sprache ist nicht nur eine Frage der Absicht, sondern auch der Umsetzung. Es gibt keine einheitlichen Regeln, ob und wie gegendert werden soll, was zu Verwirrung führen kann. In wissenschaftlichen Texten oder im Schulalltag variiert die Praxis: An einigen Orten wird Gendern als Fehler gewertet, sodass es in Klausuren und Prüfungen sogar zu Punktabzug kommen kann. Diese fehlende Einheitlichkeit erschwert die Anwendung und sorgt für Unsicherheit darüber, was erlaubt und ist und was nicht. Das Fehlen eines “goldenen Standards” macht es zudem schwieriger, gendergerechte Sprache (oder deren Verbot) im Bildungssystem fest zu verankern.

Wer auf der Suche nach weiteren Argumenten für und gegen das Gendern allgemein ist, kann hier fündig werden (selbstverständlich besteht kein Anspruch auf Vollständigkeit):

Und nun?

Die Idee hinter gendergerechter Sprache ist ohne Zweifel eine richtige und wichtige. Sprache formt unser Denken, und wer in der Sprache nicht sichtbar ist, bleibt auch gesellschaftlich oft unsichtbar. Doch so klar das Ziel auch ist, die Umsetzung stellt uns vor Herausforderungen. Gendern bringt Komplexität und Uneinheitlichkeit mit sich. Im Bildungsbereich, wo klare Regeln und einheitliche Vorgaben besonders wichtig sind, sorgt das für Verwirrung – und von der haben wir schon genug. 

Mancherorts wird das Gendern als Fehler gewertet, an anderen wird es gefördert – und dazwischen herrscht Unsicherheit, was erlaubt ist und was nicht. Diese fehlende Konsistenz erschwert die Anwendung und macht die Diskussion nicht nur für Lehrkräfte und Studierende, sondern auch für den schulischen Unterricht selbst zu einer Hürde. Dass Gendern Texte schwerer verständlich und weniger barrierefrei machen kann, verstärkt diese Problematik.

Doch bei all diesen Schwierigkeiten dürfen wir das eigentliche Ziel nicht aus den Augen verlieren: Eine gerechtere, inklusivere Gesellschaft, in der Sprache alle Menschen abbildet – unabhängig von ihrem Geschlecht. Auch wenn die sprachliche Umsetzung kompliziert und in Teilen unvollkommen ist, bleibt das Anliegen, das sie verfolgt, von entscheidender Bedeutung. Ganz bestimmt ist Gendern nicht “die eine” Lösung, schließlich scheitern wir grandios an der Umsetzbarkeit und Einheitlichkeit. Aber sollte man es trotzdem dürfen?

In diesem Kontext lautet meine Antwort nun eindeutig: Definitiv. Denn auch wenn der Weg dorthin steinig ist, bleibt gendergerechte Sprache für mich ein erster, wichtiger Schritt auf dem Weg zu mehr Gleichberechtigung und Inklusion – und in Bildungseinrichtungen sollte genau das gefördert werden.
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