Leere Räume, große Verantwortung: Schulen im Kampf gegen Extremismus. (Quelle: Canva)
Extremismus in Schulen ist längst kein Randproblem mehr. Sowohl in Nordrhein-Westfalen als auch bundesweit zeigt sich, dass Bildungseinrichtungen oft nicht ausreichend gerüstet sind, um demokratische Werte zu vermitteln und extremistischen Tendenzen entgegenzuwirken. Der Extremismusforscher Prof. Karim Fereidooni von der Ruhr-Universität Bochum warnt: ”So, wie das Schulwesen heute ist, kann es nicht weitergehen”. Angesichts der zunehmenden gesellschaftlichen Spaltung und durch politische Krisen wird die Rolle der Schule als Vermittlerin von Demokratie immer wichtiger. Doch ist das Bildungssystem dieser Aufgabe überhaupt noch gewachsen?
Gesellschaftliche Spannungen, ausgelöst durch Ereignisse wie den Nahostkonflikt oder die kommenden Landtagswahlen in Ostdeutschland, spiegeln sich zunehmend auch in den Klassenzimmern wider. Berichte von Lehrkräften dokumentieren eine besorgniserregende Zunahme extremistisch motivierter Vorfälle, darunter Hakenkreuze an Wänden, antisemitische Schmierereien und offene rechtsextreme Parolen in Schulgebäuden. In Berlin stiegen die rechtsextremen Vorfälle an Schulen von 41 im Jahr 2021 auf 70 im Jahr 2023. In den ersten fünf Monaten des Jahres 2024 gab es bereits 48 solcher Vorfälle. Ähnliche Trends zeigen sich auch in anderen Bundesländern: In Sachsen stieg die Zahl der gemeldeten rechtsextremen Vorfälle von 73 im Jahr 2019 auf 149 im Jahr 2023 und in Sachsen-Anhalt hat sich die Zahl gemeldeter extremistischer Vorfälle im laufenden Schuljahr mehr als verdoppelt.
Der Blick nach Brandenburg zeigt die Dramatik besonders deutlich. In Burg waren Lehrkräfte dazu gezwungen, die Schule zu verlassen, nachdem sie in einem Brandbrief auf rechtsextreme Aktivitäten hingewiesen hatten und darauf massiv bedroht wurden (Lehrer News berichtete). Dies ist kein Einzelfall, wie der Vorfall am Elite-Internat Louisenlund in Schleswig-Holstein zeigt, wo Schüler bei einer Feier rassisitsche Parolen skandierten (Lehrer News berichtete).
Besonders betroffen sind jüdische und muslimische Schüler:innen, die zunehmend Ziel von Diskriminierung und Vorurteilen werden. Prof. Fereidooni berichtet von jüdischen Eltern aus dem Ruhrgebiet, die angaben, ihre Kinder aus Angst vor Angriffen nicht mehr in die Schule schicken zu können. Gleichzeitig fühlen sich muslimische Familien stigmatisiert, wenn ihre Kinder in der Schule durch Lehrkräfte unangemessen zu politischen Themen befragt werden und in Verhörsituationen geraten, obwohl sie nichts mit den Ereignissen im Nahostkonflikt zu tun haben.
Ein zentraler Faktor, der zur Eskalation der Situation beiträgt, ist die unzureichende Ausbildung der Lehrkräfte. In vielen Lehramtsstudiengängen dominiert der fachliche Teil, wodurch essentiele Während Lehramtsstudierende sich eher mit Inklusion und fachlichen Inhalten auseinandersetzen, bleibt die Auseinandersetzung mit Rassismus, Antisemitismus und anderen Formen der Diskriminierung unzureichend. Diese Lücken führen zu Unsicherheiten im Umgang mit extremistischen Tendenzen im Klassenzimmer, was in der Praxis verheerende Auswirkungen haben kann. Bildungsverbände fordern daher, dass Demokratiebildung Bestandteil des Lehramtsstudiums wird. Prof. Fereidooni kritisiert, dass das deutsche Schulsystem noch immer in alten Strukturen festhängt und nicht ausreichend auf die aktuellen gesellschaftlichen Herausforderungen vorbereitet ist, was es Lehrkräften erschwert, extremistischen Tendenzen wirksam entgegenzutreten.
Die Konsequenzen dieser Missstände sind erheblich. Wenn Schulen nicht in der Lage sind, extremistischen Tendenzen entgegenzuwirken, besteht die Gefahr, dass diese Einstellungen sich in der Gesellschaft verfestigen und weiter ausbreiten. Besonders besorgniserregend ist die zunehmende Entfremdung von der Demokratie, die sich in den hohen Zustimmungswerten für populistische Parteien wie der Alternative für Deutschland (AfD) unter Jugendlichen zeigt. In Thüringen berichten Lehrkräfte von einer zunehmenden Normalisierung rassistischer und rechtsextremistischer Haltungen, was das Schulleben belastet.
Prof. Fereidooni warnt, dass auch die Zahl der Schüler:innen ohne Abschluss weiter steigen könnte und die mentale Gesundheit der Jugendlichen weiter leiden wird, falls keine tiefgreifenden Reformen erfolgen. Zudem können immer mehr Eltern, die es sich leisten können, ihre Kinder auf Privatschulen schicken, wo sie bessere Bildungschancen erwarten. Dies würde die soziale Ungleichheit weiter verschärfen.
Um Schulen zu Orten der gelebten Demokratie zu machen, sind umfassende Reformen notwendig. Prof. Fereidooni schlägt vor, das Lehrerausbildungsgesetz (LABG) dahingehend zu ergänzen, damit Werte wie Demokratie und Gleichberechtigung stärker in der Lehrausbildung verankert werden. Zudem sollten Expert:innen Konzepte zur besseren Zusammenarbeit zwischen Lehrkräften, Schulsozialarbeit und Schulpsychologie entwickeln, um die multiprofessionelle Arbeit an Schulen zu stärken. Dies sei besonders wichtig, um die Herausforderungen des Schulalltags gemeinsam zu bewältigen und eine engere Kooperation mit Familienbildungsstätten zu ermöglichen. Die Zusammenarbeit soll dazu dienen, demokratiefeindliche Einstellungen im Elternhaus frühzeitig zu erkennen und entgegenzuwirken.
Ein weiteres Anliegen ist die Überarbeitung der schulischen Curricula. Die Lehrpläne sollten entschlackt werden, um Raum für die Thematisierung aktueller politischer Ereignisse zu schaffen und die Demokratiebildung in den Fächern gezielt zu stärken. Prof. Fereidooni betont, dass das deutsche Schulwesen “im 19. Jahrhundert hängen geblieben” sei und dadurch das Engagement und die Fähigkeiten engagierter und ausgebildeter Lehrkräfte bremst.
Neben diesen inhaltlichen Reformen ist es notwendig, Lehrkräfte, die sich aktiv für Demokratie und gegen Extremismus einsetzen, stärker zu unterstützen und zu schützen. Prof. Fereidooni kritisiert, dass die Lehrkräfte oft von ihren Schulleitungen nicht ausreichend unterstützt werden. Er fordert einen besseren Schutz für engagierte Lehrkräfte und eine stärkere Sensibilisierung der Schulleitungen für die Bedeutung dieser Arbeit. Zudem sollen die Fortbildungsbudgets der Schulen erhöht werden, um regelmäßige Schulungen zu ermöglichen und extremistische Tendenzen frühzeitig zu erkennen. Eine verpflichtende Weiterbildung in Demokratiebildung wäre ein erster wichtiger Schritt.
Das deutsche Bildungssystem steht an einem kritischen Punkt. Die aktuellen Herausforderungen erfordern tiefgreifende Reformen, um die Schulen als Orte der Demokratie zu stärken und extremistischen Tendenzen wirksam entgegenzutreten. Ohne diese Reformen droht eine zunehmende Polarisierung der Gesellschaft, die besonders die jüngeren Generationen betrifft. Prof. Fereidoonis Appell ist eindeutig: "So, wie das Schulwesen heute ist, kann es nicht weitergehen”. Es müssen Politik, Bildungsträger und Gesellschaft gemeinsam handeln, um die Grundlagen für eine zukunftsfähige und gerechte Bildung zu schaffen, die demokratische Werte fest verankert und unsere Gesellschaft zusammenhält.