Schulmediatorin Birgit Johannssen (rechts) mit ihrer SiS-Partnerin Gisela John in einem Mediationsgespräch. (Quelle: Daniel Devecioglu)
Ausgrenzung, Pausenhofstreitigkeiten und Beziehungsprobleme – aufgrund des Lehrkräftemangels an deutschen Schulen tun sich viele Lehrkräfte schwer, die Zeit zu finden, um solche Konflikte im Schulalltag zu klären. Hier kommt der Verein Seniorpartner in School (SiS) ins Spiel. Bei SiS engagieren sich ehrenamtliche Senior:innen als Mediator:innen an deutschen Schulen, wo sie im Zweierteam in einem eigenen Raum ein- bis zweimal pro Woche den Schüler:innen eine Anlaufstelle bei Konflikten und Streitigkeiten bieten. SiS wurde 2001 in Berlin gegründet und ist mittlerweile bundesweit an 342 Schulen tätig. Etwa drei Viertel davon sind Grundschulen und ein Viertel Sekundarschulen und Gymnasien. Dem SiS Bundesverband e.V. gehören 14 Landesverbände mit insgesamt etwa 1.300 Mitgliedern an, von denen die größten Berlin, Bayern und Niedersachsen sind.
Lehrer News hat mit der 1. Vorsitzenden des Berliner Verbandes, Birgit Johannssen, gesprochen. Sie ist seit 2003 als SiS-Mediatorin an der Lynar-Grundschule in Spandau tätig.
Lehrer News: Was für Menschen sind als Mediator:innen bei SiS tätig?
Johannssen: Das ist sehr unterschiedlich. Wir sprechen mit unserem Konzept Menschen an, die in Rente oder Pension sind und ein sinnvolles Ehrenamt mit Kindern und Jugendlichen suchen. In Berlin ist es so, dass viele Seniorpartner aus dem akademischen Bildungsbürgertum kommen. Das sind z.B. ehemalige Lehrer und Lehrerinnen, die sehr viel Freude in ihrem Beruf und einen guten Kontakt zu Kindern hatten. Auch Sozialpädagogen, Juristen, einige kaufmännische Berufe, Psychotherapeuten, Psychologen, Ärztinnen und Künstlerinnen sind dabei. Leider sind wenige Menschen mit Migrationshintergrund dabei. Ich würde es gut finden, wenn sich jemand aus der Türkei oder aus dem arabischen Raum bei uns melden würde, da wir in vielen Schulen mit Kindern aus diesem Kulturkreis arbeiten.
Lehrer News: Wie werden diese Senior:innen zu SiS-Mentor:innen?
Johannssen: Wir führen mit jedem Interessenten ein einstündiges Gespräch und fragen, warum sie sich ehrenamtlich engagieren möchten und warum gerade bei Seniorpartner in School als Schulmediator:in. Da erfahren wir einiges über ihre Motivation, ihren beruflichen Hintergrund und ihren Bezug zu Kindern. Bevor sie in die Schulen gehen, bekommen sie von uns eine Ausbildung. Diese geht über sechs bis acht Wochen; jeweils zwei Tage in der Woche werden sie von einer qualifizierten Trainerin auf ihre Aufgaben vorbereitet. Für den Schritt in die Schule organisieren wir, dass die Teilnehmer:innen einmal während der Ausbildung in die Schule gehen und bei erfahrenen Seniorpartnern hospitieren können. Eine Voraussetzung ist, dass die Seniorpartner nach der Ausbildung mindestens 18 Monate in die Schulen gehen und regelmäßig an der Supervision teilnehmen, um ihre Fälle und Erlebnisse zu reflektieren. Wir versuchen also, als Verein die Seniorpartner so gut es geht zu begleiten.
Lehrer News: Was können sich unsere Leser:innen unter der Arbeit von SiS-Mediator:innen vorstellen?
Johannssen: Die Mediation ist eine bestimmte Methode der Gesprächsführung, bei der es sehr wichtig ist – und das finden die Kinder auch immer wieder gut– dass es nicht darum geht, den Schuldigen zu finden, sondern die tieferen Hintergründe herauszufinden. Die Kinder kommen freiwillig, und wir sichern ihnen zu, dass diese Gespräche vertraulich sind. Es ist ganz wichtig, dass jeder seine Perspektive und seine Gefühle erzählt und dass die Kinder sich gegenseitig zuhören. Die nächste Stufe ist dann, nach den Bedürfnissen zu fragen. Da ist es oftmals so, dass die Kinder sich wünschen, dass die Freundschaft weiter besteht und sich etwas einfallen lassen, wie sie diese Freundschaft wieder pflegen können. Es ist wichtig, dass wir die Kinder nicht beraten, sondern unsere Meinung zurückhalten und die Kinder selber eine Lösung finden lassen. Über die Mediaitonsgespräche werden kurze Protokolle geführt, deren Ergebnisse später in die halbjährlichen Statistiken eingehen.
Lehrer News: Welche kreativen Techniken setzen die Seniorpartner:innen von SiS neben dem einfachen Gespräch ein?
Johannssen: Gut erwiesen hat sich eine Methode, die wir vor allem im Einzelgespräch anwenden, nämlich mit den Kindern Material-Aufstellungen zu machen. Wir haben verschiedene Materialien, zum Beispiel kleine Holzfiguren, Steine, Muscheln oder Bänder und man fordert die Kinder auf, die Situation und wie sie sich fühlen, aufzuzeigen. Da ist es manchmal erschütternd, wenn sich Kinder außerhalb eines Kreises stellen und sich ausgegrenzt fühlen, aber dann ist es möglich, dass man mit dem Kind darüber redet. Gemeinsames Malen kann man zum Beispiel gut mit Streithähnen machen. Zwei Kinder malen dann gemeinsam an einem Bild, stellen die Situation dar und reden darüber. Ich habe gelegentlich in einer Willkommensklasse mitgearbeitet und habe z.B. mit den Kindern Memory gespielt. Das hat den Kindern viel Spaß gemacht und sie lernen spielerisch die deutschen Begriffe und trainieren ihr Gedächtnis.
Lehrer News: Es sind mittlerweile immer mehr Sozialpädagog:innen und Sozialarbeiter:innen an Schulen tätig. Wie wird die Überschneidung ihrer Tätigkeitsfelder mit denen der SiS-Mediator:innen gehandhabt?
Johannssen: Das ist in jeder Schule anders. Wir empfehlen, mit den Sozialarbeitern Kontakt zu haben und über die jeweiligen Aufgabenbereiche zu sprechen, was an einigen Schulen recht gut funktioniert. Da sind die Sozialarbeiter:innen für die schwereren Fälle zuständig. Sie sind auch jeden Tag in der Schule und gehen, wenn es notwendig ist, in die Familien. Das machen die Seniorpartner nicht. Laut Statistik behandeln wir als SiS-Mentoren an erster Stelle Beleidigungen, Ausgrenzungen und Prügeleien – vor allem bei Jungs. An zweiter Stelle stehen Beziehungsprobleme zwischen Freundinnen. Die Grenzen der Mediation sind dann, wenn es z.B. um häusliche Gewalt und um sexuellen Missbrauch geht. Da sind wir angehalten, dieses entweder mit der Fachlehrerin oder der Vertrauenslehrerin zu besprechen.
Lehrer News: Wie kommen die Schüler:innen zu den SiS-Mediator:innen?
Johannssen: Oft werden sie zuerst von den Lehrern geschickt, wobei sie trotzdem freiwillig bereit sein müssen, über den Konflikt zu reden. Wenn sie dann mal bei uns waren, kommen viele gerne wieder, aber auch das ist sehr unterschiedlich. Wir haben Schulen, da stehen die Kinder vor dem “Raum der guten Lösungen” Schlange und dann haben wir Schulen, da kommen die Kinder nicht so häufig. Dann schlagen wir vor, dass man sich ein paar Mal in eine Klasse setzt und hospitiert. Hier sieht man die Kinder, die stören und ein auffälliges Verhalten haben. Dann spricht man mit der Lehrerin darüber und trifft zum Beispiel mit ein oder zwei Schülern eine Verabredung.
Lehrer News: Die Lehrer:innen vermitteln also die Kinder an die SiS-Mediator:innen. Gibt es auch Kommunikation in die andere Richtung, also bekommen die Lehrer:innen Feedback über stattgefundene Mediationen?
Johannssen: Dadurch, dass wir den Kindern Vertrauen zugesagt haben, ist es mitunter problematisch. Die Lehrer sind oftmals an Feedback interessiert und wenn wir dann allgemein angeben “das Gespräch lief gut und die Kinder kommen in vier Wochen wieder und berichten”, dann muss das dem Lehrer reichen. Einigen reicht es aber nicht und dann fragen wir die Kinder, ob sie damit einverstanden sind, dass wir den Lehrern berichten. Aber wenn sie nicht einverstanden sind, dann machen wir das nicht und das wird von den Lehrer:innen meistens akzeptiert. Von daher ist es wichtig, dass die Lehrkräfte wissen, was Mediation ist, denn ein ganz wichtiger Bestandteil der Mediation ist die Vertraulichkeit.
Lehrer News: Gab es in Ihrer mittlerweile 20-jährigen Tätigkeit bei SiS Veränderungen in den Problemen, mit denen Kinder zu Ihnen kommen, und wodurch sind diese Ihrer Meinung nach bedingt?
Johannssen: Eine Veränderung ist die Digitalisierung, die fast alle Lebensbereiche betrifft. Das Handy ist inzwischen für Kinder sehr wichtig, der Umgang damit in der Schule allerdings sehr unterschiedlich. Neu sind die Gruppenchats und die Möglichkeit von Ausgrenzung und Mobbing über Whatsapp oder Signal. Früher gab es natürlich auch Mobbing, nur hat man es nicht so schnell verbreiten können. In meiner Schule habe ich den Eindruck, dass die Gewalt nicht zugenommen hat. Vor 20 Jahren, als ich dort anfing, gab es viele Auseinandersetzungen zwischen Türken, Kurden und Libanesen. Das waren die drei Bevölkerungsgruppen, die am stärksten in der Schule vertreten waren. In den letzten Jahren sind viele andere Nationen dazu gekommen – mittlerweile etwa 40. Ich habe den Eindruck, dass diese größere Vielfalt gut ist, wobei die sprachlichen Probleme eine Herausforderung für die Schule und die Kinder sind.
Lehrer News: Wie werden Schulen zu SiS-Schulen?
Johannssen: Das ist in den Bundesländern sehr unterschiedlich. In Berlin melden sich die Schulen bei uns und dann wird ein Gespräch mit dem Schulleiter oder der Schulleiterin und den Sozialpädagogen vereinbart, um über unser Konzept zu reden und über die Mediation aufzuklären. Wenn die Schule weiter Interesse hat, Seniorpartner:innen zu bekommen, werden wir zur Gesamtkonferenz eingeladen, an dem auch alle Lehrer und Elternvertreter sind. Dann müssen mehr als die Hälfte der Lehrer damit einverstanden sein, dass wir als schulfremde Personen an die Schule kommen. Das ist jetzt kein Problem mehr, aber als ich vor 20 Jahren mit diesem Ehrenamt anfing, gab es viele Schulen, die nicht wollten, dass schulfremde Personen an die Schule kommen.
Lehrer News: Was ist die Zukunftsperspektive der SiS?
Johannssen: Der Landesverband Berlin wird seit 6 Jahren vom Senat für Bildung, Jugend und Familie und dem Senat für Integration, Arbeit und Soziales gefördert. Wir haben für 2024 wieder einen Förderantrag gestellt und hoffen sehr, dass wir im Haushaltsplan berücksichtigt werden. Die anderen Landesverbände erhalten ihre Förderung von Stiftungen und lokale Firmen, aber der Bundesverband versucht mit dem Bundesministerium ins Gespräch zu kommen, sodass SiS auch auf Bundesebene finanziert wird und eine längerfristige nachhaltige Perspektive hat. Eine monetäre Unterstützung ist notwendig, um den Bestand zu halten und als Organisation möglichst zu wachsen. SiS erfüllt mit diesem generationsübergreifenden Projekt wichtige gesellschaftliche Aufgaben und bildet eine Brücke zwischen Alt und Jung. Hier in Berlin kommen wir jährlich insgesamt auf ca. 32.000 ehrenamtlich geleistete Stunden. Das ist schon ein gewaltiges Engagement.
Lehrer News: Vielen Dank für das Gespräch!
Der Landesverband Berlin sucht noch Teilnehmer:innen für die nächste Ausbildungsrunde. Sie beginnt am 05. Februar 2024 und findet online statt. Mehr Infos findet ihr auf www.seniorpartner-berlin.de.