Gehirngerechtes Lernen – warum “Pauken” der falsche Weg ist

Von
Kornelius Kindermann
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21
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June 2022
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Unter “Gehirngerechtem Lernen” versteht man heutzutage Lernmethoden, die sich für die Struktur unseres Gehirns wesentlich besser eignen als der klassische “Frontalunterricht”, der auf das Auswendiglernen und Wiederholen von Lektionen setzt. Mitbegründet wurde dieser Denkansatz von der 2011 verstorbenen Bestsellerautorin Vera F. Birkenbihl. Sie selbst brach das Gymnasium ab, studierte dann jedoch in den USA Psychologie und Journalismus, wobei sie mit den bahnbrechenden Veröffentlichungen von Roger Sperry in Kontakt kam.

Der Psychologieprofessor erhielt 1981 den Nobelpreis für seine Beschreibung der unterschiedlichen Funktionsweise der rechten und linken Gehirnhälfte. Auf dieser Forschung baute Birkenbihl eine überaus erfolgreiche Karriere als Rednerin, Mentorin und Autorin auf, die sich inhaltlich mit neuen Wegen, zu Lernen auseinander setzte. Dass beim klassischen Schulunterricht nämlich “nichts hängen blieb”, bemerkte Birkenbihl schon in ihrer eigenen Zeit als Schülerin. Ausgehend vom Erlernen neuer Sprachen entwickelte sie Methoden und Übungen, die versprachen, die Lernkapazitäten unseres Gehirns besser mit einzubeziehen.

Die Kommunikation der Hirnhälften

In Bezug auf Sperrys Arbeit nutzte Birkenbihl eine heutzutage recht bekannte Diversifizierung des Gehirns: So ist die rechte Gehirnhälfte oder Gehirnhemisphäre primär für Logik, Rechnen und ähnliches zuständig, die linke Gehirnhemisphäre für Kreatives, Imagination und Emotion. Wahrscheinlich ist Ihnen selbst auch schon einmal das Bild untergekommen, in dem ein Querschnitt des Gehirns gezeigt wird, welches auf der einen Seite sehr bunt und kräftig gemalt ist, während es auf der anderen Seite sehr fein, ordentlich und schwarzweiß dargestellt wird. Die Popularisierung solcher Symbolbilder ist unter anderem Vera Birkenbihl zu verdanken.

Gehirnhälften grafisch dargestellt

Die Trennung der beiden Gehirnhemisphären in der Popkultur

Hier muss allerdings eingeschoben werden: Dies stellt eine erhebliche Reduktion und Generalisierung tatsächlicher Forschungsergebnisse dar. Es stimmt zwar, dass die Funktionsweise unseres Gehirns asymmetrisch verläuft, einem derart einfach Schema folgt unsere Biologie jedoch nicht. Bereiche, die zum Beispiel für Kommunikation, Kreativität und Logisches Denken zuständig sind, verteilen sich über beide Gehirnhälften und stehen im engen Kontakt miteinander. Auch sind Schwerpunkte einzelner Bereiche nicht “immer” links oder rechts zu finden, dies ist je nach Person unterschiedlich und hängt zum Beispiel auch damit zusammen, ob eine Person Rechts- oder Linkshänder ist. Aus diesem Grund wurde Birkenbihl von der Fachpresse auch durchaus als “Populär-Psychologin” kritisiert – eine Abneigung, die auf Gegenseitigkeit beruhte und dazu führte, dass Birkenbihl und andere Autor:innen ihres Umfelds sich eher als eine Alternative zur klassischen medizinischen Forschung verstanden.

Dennoch: Daran, dass es für das Lernen wichtig ist, die spezifischen Eigenheiten des Gehirns zu nutzen, ist nichts falsch. Und so generalisiert Birkenbihls Ansatz auch war, sein Erfolg gibt ihm Recht. Unter der Prämisse der beiden verschiedenen Hirnhälften setzte Birkenbihl darauf, beide Bereiche – sowohl die Logik als auch die Kreativität – in den Lernprozess einzubinden. Die Schlüssel dazu sind Assoziation, Eigenständigkeit beim Lernen und Visualisierung. Statt ein Blatt mit Vokabeln darauf auswendig zu lernen, solle der Lernprozess mehrdimensional gestaltet werden: Bilder und Wörter werden miteinander verbunden, möglicherweise kann eine Geschichte mit den Vokabeln erzählt werden, die Vokabeln werden räumlich getrennt (zum Beispiel mit Karteikarten). So wird gewährleistet, dass die zu lernende Information durch beide Gehirnhälften läuft. Beide Gehirnhälften sollen dabei untereinander “kommunizieren” und das Gelernte so als “eigene Erkenntnis” annehmen. Das Gelernte nämlich nur als bloße Information zu speichern, hat zur Folge, dass es irgendwann bei einem Vokabeltest dann einmal abgerufen – und sofort wieder vergessen wird.

Erinnern und Vergessen

Erinnern und Vergessen stehen dabei im Mittelpunkt von gehirngerechtem Lernen. Seit dem 19. Jahrhundert bezeichnet man die Kunst, sich besonders gut zu erinnern als “Mnemotik”, wobei dieser Denksport ebenfalls bis ins antike Griechenland zurückreicht. Heute begegnen uns Gedächtniskünstler im Fernsehen, wenn sie zum Beispiel bei “Wetten, dass…” komplizierte Zahlenketten aufsagen oder sich die Zahl Pi bis auf die hundertste Nachkommastelle merken können. In der Mnemotik gibt es durchaus verschiedene Techniken, um sich besonders gut Dinge merken zu können und Birkenbihls Lernkonzepte machen Gebrauch davon. So ist es sinnvoll, zum Beispiel Zahlen mit Assoziationen zu belegen und diese dann zu einer Geschichte zu verbinden, statt sie einfach hintereinander auswendig zu lernen. Oft werden Gedächtnisstrukturen gebraucht, wie beispielsweise ein gedankliches Inhaltsverzeichnis oder eine imaginierte Bibliothek, um sich nicht “alles auf einmal” zu merken. Wichtiger ist es, den Weg zu bestimmten Informationen zu kennen, die im Gehirn gespeichert sind. Techniken wie diese müssen in der Schule nun zwar nicht genau so praktiziert werden, zeigen aber, wie die besten Erinnerungskünstler zu ihren beeindruckenden Leistungen gelangen – nämlich mit Assoziationen und mehrdimensionalen Lernprozessen.

Zu solchen Methoden animierte Birkenbihl ihre Zuschauer:innen auch stets, wenn sie ihre gut besuchten und humorvoll gestalteten Vorträge gab. Ihr lag viel daran, das Publikum dazu zu bringen, aus eingefahrenen Denkweisen herauszutreten, Themen und Probleme auf anderen, neuen, Ebenen zu betrachten. Dafür zeichnete sie gerne schematische Darstellungen auf, motivierte Zuschauer:innen zur Selbstreflexion– und öffnete mit viel Chuzpe und dem ein oder anderen Witz große Gedankenräume, die das Publikum mit eigenen Überlegungen füllen konnte.

                                                       Ein Vortrag von Vera F. Birkenbihl zum Thema Lernen (Quelle: Youtube)

Ähnlich verhält es sich mit einem weiteren Lernschwerpunkt, den Birkenbihl bearbeitete: Dem Lesen. An sich ist das Lesen eine Art zu Lernen, die ziemlich anfällig für das Vergessenwerden ist. Denn die Informationen gelangen nur über einen einzigen Weg – die Augen und die visuellen Bereiche des Gehirns  – in das Gedächtnis. Birkenbihl war eine starke Fürsprecherin der sogenannten SQ3R Methode: Survey (Überfliegen), Question (Fragen formulieren), Read (Lesen), Recite (Wiedergeben), Review (Resümee ziehen). Diese Methode wurde auch schon verfeinert und optimiert, im Prinzip dreht sie sich darum, das Gelesene in verschiedenen anderen Gehirnbereichen zu verankern. Zu Anfang sollen sich Leser:innen erst einmal einen Überblick über den Text verschaffen und daraufhin Fragen stellen, die bis dahin aufgekommen sind. So gelangt das Gehirn in einen Modus, in dem es ein gewisses Eigeninteresse an den zu lesenden Informationen entwickelt. Das Lesen selbst gibt dann Antworten auf gestellte Fragen, ein “Aha-Erlebnis” stellt sich ein. Zum Schluss liegt es bei den Leser:innen, das bereits Gelesene noch einmal zu rekapitulieren. Dinge in eigenen Worten zu formulieren spricht dabei ganz andere Bereiche des Gehirns an und Informationen werden mit bereits Bekanntem vernetzt: Aus dem “Lernen” wird ein “Verstehen”.

Gehirngerechter Unterricht

Der heutige Unterricht gestaltet sich bereits deutlich gehirngerechter, als noch zu der Zeit, in der Vera Birkenbihl das Gymnasium besuchte. Viele Techniken werden Ihnen daher schon einmal begegnet sein – das Lernen mit Karteikarten beispielsweise. Für den Erfolg der kognitiven Wende in der Unterrichtsgestaltung spricht dabei auch das in den letzten Jahrzehnten gestiegene Bildungsniveau der Gesellschaft. Dennoch: Es schadet natürlich nicht, sich besonders geeignete Lernmethoden in Erinnerung zu rufen. Besonders nützlich ist dies für Student:innen, die nach der Schulzeit vor der Herausforderung stehen, für ihre didaktischen Methoden selbst verantwortlich zu sein –das sogenannte “Bulimie-Lernen” ist dabei sicher ein Phänomen, das aus der Nichtbeachtung gehirngerechter Lernmethoden hervorgeht.

Grundsätzlich ist es ein guter Ausgangspunkt, eine Motivation für das Lernen zu schaffen, die über die bloße Leistungsanforderung in Schule und Universität hinausgeht. Wenn man etwas “für sich” lernt, wird dies viel besser verinnerlicht. Dafür eignen sich Projektaufgaben besonders gut: Schüler:innen stellen sich ihre Aufgabe selber – wofür sie bereits eigene Gründe und Motivationen mitbringen. Das Bearbeiten der Aufgabe gleicht dann eher einem “Problemlösen”, statt einem Auswendiglernen. Darin ist unser Gehirn nicht nur besonders gut, es benutzt vor allem auch ganz verschiedene Fähigkeiten – kreative Ansätze, systematisches Arbeiten und  Konzeptualisierung – um die Aufgabe zu lösen und belohnt die Schüler:in zum Schluss auch noch mit einem guten Gefühl, denn unser Gehirn liebt es, Probleme zu lösen.

Gruppenarbeiten können ebenfalls ein tieferes Lernen ermöglichen, denn hier sind Schüler:innen darauf angewiesen, zu kommunizieren. Zum einen ist es für das Gelernte sehr wichtig, noch einmal mit eigenen Worten und Assoziationen wiedergegeben zu werden, zum anderen nimmt man die Erklärung einer befreundeten Mitschüler:in auch ganz anders an, als die einer Lehrer:in, weil die sozialen Areale im Gehirn anders beansprucht sind. Das “Selbermachen” ist also ein wichtiger Schlüssel für einen Lernprozess, der das Gehirn adäquat einbinden möchte.

Digital – und trotzdem gehirngerecht?

Dieses “Selbermachen” ist zum Beispiel auch wichtig, wenn es um neue digitale Unterrichtsmethoden geht: Im Gehirn passiert nicht das gleiche, wenn ein Text abgetippt statt aufgeschrieben wird und Bilder auf einem Bildschirm werden anders erfasst, als gedruckte, quasi haptische Bilder auf Papier. Philologen befürchten diesbezüglich auch eine Rückentwicklung in den Bereichen der Sprachkenntnis und Rechtschreibung. Denn die motorische Leistung, Buchstaben aufzuschreiben und damit sinnvolle Texte zu verfassen ist bereits ein Prozess, der das Gehirn auf vielen verschiedenen Ebenen fordert und eine besser Lernleistung möglich macht. Dies können Sie auch einmal selbst ausprobieren, wenn Sie sich zum Beispiel eine Mindmap bloß anschauen – oder diese im Kontrast dazu selbst anfertigen. Im Allgemeinen sind Mindmaps natürlich auch eine gute Methode, mithilfe von Assoziation ein besseres Erlernen zu gewährleisten. Dabei sollte Schüler:innen aber auch der Raum gelassen werden, diese selbst zu kreieren und mit ihren eigenen Inhalten und Verknüpfungen zu füllen.

Ganz aktuell strebt die moderne Didaktik gerade auch zu einem neuen, noch relativ unerschlossenen Bereich des Erlernens: Der Gamification. Ein Unterricht, der wie ein Videospiel aufgebaut ist, belohnt Schüler:innen zum Beispiel mit Erfahrungspunkten und Level-Ups, wenn sie bestimmte Herausforderungen meistern. Dies ist in der breiten Anwendung zwar heutzutage noch Zukunftsmusik, führt aber wichtige Kernpunkte des Gehirngerechten Lernens fort: Die eigene Motivation wird hierbei stark in Anspruch genommen und die Schüler:innen “machen selber”, wodurch sie zu eigenen Wegen und Lösungen gelangen. Stärker als im normalen Unterricht sind hierbei vor allem die Aspekte “Belohnung” und “Konkurrenzdenken” vertreten, was in Zukunft sicher noch zu Kritik führen wird.

Haben Sie schon einmal ein Buch von Vera Birkenbihl gelesen oder sind auf ihre Vorträge gestoßen? Wenn dieser Artikel Ihr Interesse an Birkenbihls Inhalten geweckt hat, können wir ihnen eine große Kollektion an Vorträgen von ihr empfehlen, die auf Youtube zusammengestellt worden sind. Diese finden sie hier.

Wenn Sie Erfahrungen mit Birkenbihls Methoden haben – vielleicht wenden Sie diese ja selbst in der Schule oder im Privaten an – schreiben Sie uns gerne von Ihren Erfahrungen mit gehirngerechtem Lernen in den Kommentaren!

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