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Inklusion in der Bildung ist, wie bereits in den letzten Artikeln unserer Themenwoche dargelegt wurde, ein ebenso wichtiges wie polarisierendes Thema. Die Diskussionen um mehr Inklusion in der Bildung sind jedoch längst nicht nur in Deutschland zu finden. Die fehlenden inklusiven Bildungsangebote sind ein Problem mit internationaler Relevanz: Auf der ganzen Welt hoffen Kinder darauf, dass sie in Zukunft mehr und besser am normalen Schulalltag teilnehmen können. Der Kern von Inklusion ist, dass Kinder nicht nur in eine reguläre Klasse gesetzt und somit “integriert” werden, sich aber dem gegebenen System anpassen müssen, sondern, dass auch Schulen, Lehrer und Mitschüler auf die Kinder eingehen und diese gesehen und verstanden werden. Darüber hinaus sollte es natürlich immer das Ziel sein, die Kinder in der Schule so umfangreich ausbilden zu können, dass sie einen Abschluss erreichen und nach der Schule qualifiziert in eine Ausbildung oder einen Beruf einsteigen können. Doch dies ist längst noch nicht in allen Ländern Realität. Stattdessen sind viele Bildungssysteme noch immer geprägt von der Exklusion und Separation von Kindern mit Behinderung. Auch die in Deutschland vielfach zu findenden Förderschulen gerieten als Teil dieser Abgrenzung in den letzten Jahrzehnten vermehrt in die Kritik. Um die heutige Lage integrativer Beschulung in Deutschland sowie im internationalen Kontext verstehen zu können, ist es notwendig, einen Blick auf die geschichtliche Entwicklung dieser zu werfen.
Der UN-Ausschuss stellte dabei klar, dass „die Aufnahme von Schülerinnen und Schülern mit Behinderungen in Regelklassen ohne begleitende strukturelle Veränderungen an beispielsweise Organisation, Curriculum und Lehr- und Lernstrategien keine Inklusion darstellt.“ In dieser Hinsicht „muss das Unterrichtssystem eine personalisierte Bildungsantwort liefern statt zu erwarten, dass sich der/die Schüler(in) an das System anpasst"
Auch Deutschland hat sich im Rahmen der UN Behindertenrechtskonvention grundsätzlich zu einer Umstellung auf ein inklusives Schulsystem verpflichtet und stellt seit einigen Jahren Bemühungen zur Umsetzung dieses Zieles an. Jedoch setzt man hierzulande oftmals noch auf das Konzept der Förderschule, auch wenn dieses vor allem in den letzten Jahren zunehmend in der Kritik steht. Im Schuljahr 2021/22 gab es in Deutschland von 32.206 allgemeinbildenden Schulen noch 2.792 Förderschulen mit einer Schülerzahl von 327.486 Schüler:innen. 2020 besuchten nur insgesamt 254.000 Schüler:innen mit sonderpädagogischem Förderbedarf eine Regelschule. Bei einer vollständigen Umsetzung der Inklusion würden Förderschulen hierzulande gar nicht mehr oder nur in geringer Anzahl für besonders bedürftige Kinder fortbestehen.
Europa hat im Vergleich zu anderen Kontinenten in großen Teilen bereits recht umfangreiche inklusive Strukturen geschaffen, nicht zuletzt auch aufgrund der Bemühungen von EU und UNO. Prinzipiell finden sich in Europa, laut Martine Caraglio vom Pariser Bildungsministerium, drei verschiedene Ansätze, um inklusive Bildung umzusetzen:
„Da ist zum einen die Politik ‚all-inclusive‘ – alle behinderten Kinder besuchen die Regelschule. Als Vorbild gilt Italien. Beim zweiten Ansatz stehen spezielle Einrichtungen, Förderschulen, im Vordergrund. Dies ist noch Alltag in Deutschland. Und der dritte Ansatz ist eine Mischform, wie bei uns in Frankreich.”
Allerdings zeigt sich bei der Inklusion von Kindern mit Behinderung an vielen anderen Orten der Welt noch ein weit größerer Handlungsbedarf. Tendenziell ist in den meisten Ländern die Wahrscheinlichkeit eines Schulbesuchs bei Menschen mit Behinderung geringer, als bei jenen ohne Beeinträchtigung. Aus kulturellen, religiösen oder finanziellen Gründen werden Kinder mit Behinderung aus den Schulen vieler, vor allem ärmerer Länder, ausgeschlossen. Oftmals finden sich hier auch keine alternativen Angebote wie Förderschulen, sondern Bildung bleibt den Kindern vollends verwehrt. In Entwicklungsländern besuchen etwa 90% der Kinder mit Behinderungen keine Schule, weltweit sind es 32 Millionen. Nicht nur hat das Auswirkungen auf die psychische Gesundheit und Entwicklung der Kinder, sie haben außerdem fast gar keine Aussichten auf einen späteren Arbeitsplatz. Um einen solchen zu bekommen, ist neben der Grundschule auch die nachfolgende Ausbildung der Kinder und Jugendlichen, etwa in Form von weiterführenden Schulen, sehr relevant. Die größten Disparitäten zwischen Jugendlichen mit und ohne Behinderung lassen sich in Vietnam, Indonesien und Ägypten feststellen. Von den 15 bis 19 Jährigen besuchten folgende keine Bildungseinrichtung mehr:
Doch es gibt auch Beispiele, die zeigen, dass es möglich ist, eine inklusive Beschulung zu entwickeln. Viele Länder haben durch tiefgreifende Reformen bereits neue Strukturen geschaffen, um Kindern mit Behinderung ein inklusives Bildungssystem zur Verfügung stellen zu können. Nachfolgend möchten wir drei Länder vorstellen, in denen Inklusion bereits Alltag ist.
Italien zeigt sich in der Eigeninitiative der Umsetzung inklusiven Unterrichts dem Rest der Welt als Vorreiter. Bereits 1977 schaffte es mit einer gesetzlich festgelegten Abschaffung von Sonderschulen und Sonderklassen den Absprung hin zu inklusiver Beschulung. Diese Reform war allerdings eine notwendige Reaktion auf einen langen Kampf für eine Verbesserung des nicht mehr tragbaren Bildungsnotstandes der Bevölkerung. Bis in die späten 60er Jahre besuchten viele Kinder lediglich die fünf Klassen umfassende Grundschule und ergriffen danach oft sofort eine Arbeit. Den meisten Kindern mit Behinderung wurde Schulbildung vollends verwehrt. Doch die Stimmen nach einer Bildung für alle, mit mehr Zusammenhalt und weniger Trennung, wurden immer lauter. Als Antwort folgte die erste große Reform: Eine verpflichtende Beschulung aller Kinder zwischen 6 und 14 Jahren, welche erstmals auch Kindern mit Behinderung Zugang zu Bildung und damit eine Zukunftsperspektive bot. Als Inklusion 1977 gesetzlich verankert wurde, wurden automatisch sowohl Grund-, Mittel- und Oberstufen als auch Berufsschulen zu inklusiven Bildungseinrichtungen. Seitdem hat Italien den Inklusionsbegriff, welcher zuvor vor allem auf Menschen mit körperlichen und geistigen Einschränkungen bezogen war, noch erweitert. Heute werden auch der kulturelle Hintergrund, die Sprache und die emotionale und soziale Entwicklung des Kindes mit berücksichtigt und als inklusionsbedürftig anerkannt.
Über 99% der italienischen Kinder werden mittlerweile gemeinsam beschult. Die Schüler:innen mit einem erhöhten Hilfebedarf folgen dem regulären Unterricht, so gut es ihnen möglich ist. Bei Bedarf können sie jedoch außerdem auf eine spezifisch angepasste Betreuung in einzelnen Fächern zurückgreifen. Jeder Schüler Italiens hat außerdem die Möglichkeit, einen individuell auf seine Lernvoraussetzungen ausgelegten Bildungsplan zu nutzen, welchen Schüler:innen, Lehrkräfte, Eltern und geschulte Fachkräfte gemeinsam ausarbeiten. Kinder und Jugendliche mit Inklusionsbedarf haben zusätzlich ein Recht auf eine angepasste und differenzierte Bewertung ihrer Leistungen sowie auf alle benötigten zusätzlichen Lernmaterialien, damit sie dem Unterricht bestmöglich folgen können. Außerdem wird ein kostenloser Schultransport für alle Schüler:innen mit Beeinträchtigungen zur Verfügung gestellt.
Doch auch in dieser lang erprobten inklusiven Struktur zeigen sich nach wie vor Probleme. Denn für die Umsetzung dieses Systems benötigt es viele Fachkräfte. Den Lehrer:innen an Italienischen Schulen sollten diese eigentlich zusätzlich zur Seite stehen, doch viele notwendigen Stellen bleiben aufgrund des herrschenden Fachkräftemangels unbesetzt. Auch die Eingliederung von Menschen mit Behinderung in den Arbeitsmarkt zeigt sich in Italien nach wie vor als eine noch zu meisternde Herausforderung. Nach ihrem Schulabschluss haben sie weniger Chancen auf einen Arbeitsplatz als in den meisten anderen Ländern Europas.
Auch Frankreich verfügt mittlerweile über eine inklusive Bildungsstruktur. Hier beschreibt man das herrschende Bildungssystem allerdings nicht als Inklusion, sondern spricht lieber von der “Schule für alle”. Das Ziel dieser ist es einen Bildungsraum für alle Kinder zu schaffen, ohne Ausgrenzung und Diskriminierung. Dem liegt das 2005 beschlossene “Gesetz über die Rechts-und Chancengleichheit” zugrunde, welches alle schulischen Einrichtungen dazu verpflichtet bei Bedarf Menschen mit Behinderung aufzunehmen. 2018 besuchten dadurch bereits drei mal mehr Schüler:innen mit Behinderungen eine Regelschule als 2006, ein Jahr nach Gesetzesbeschluss.
Die individuelle Schullaufbahn wird anhand des Behinderungsgrades und der individuellen Fähigkeiten des Kindes ausgewählt. Bei leichten Beeinträchtigungen können die Kinder meist komplett in den Regelunterricht eingebunden werden. Bei größerem Hilfebedarf kann das Kind auch von einer zusätzlichen begleitenden Kraft unterstützt werden. Für Schüler:innen mit schwereren Beeinträchtigungen, welche dem regulären Unterricht so nicht folgen können, werden in den gleichen Schulen gesonderte Klassen eingerichtet, um dort intensiver auf ihre Bedürfnisse und Schwierigkeiten eingehen zu können. Außerdem wurden in bereits über 8.000 Schulen des Landes sogenannte Ulis (unités localisées pour l'inclusion scolaire) also “lokale Einheiten zur schulischen Inklusion” eingerichtet. Dies sind separate Räume der Schule, die den Kindern, die eine Pause vom normalen Unterricht benötigen, als Zufluchtsort dienen sollen. Dort werden sie vom “Ulis Koordinator” betreut und erhalten von ihm gegebenenfalls Unterstützung und Nachhilfe.
Erst wenn der Behinderungsgrad zu hoch ist und die Kinder dem Unterricht trotz dieser Angebote nicht folgen können, kommt eine Förderschule als Alternative in Frage. Entschieden wird dieser Schritt von Eltern gemeinsam mit einer außerschulischen Kommission. Die Förderschulen gelten jedoch als medizinisch-soziale Institutionen und nicht als Bildungseinrichtungen.
Zwar sind die inklusiven Strukturen geschaffen, in der Umsetzung mangelt es vielen Schulen jedoch an materieller und personeller Unterstützung, denn auch hier hinterlässt der Fachkräftemangel seine Spuren in den Klassenräumen. Viele der benötigten Sonderpädagogen fehlen und die Hilfskräfte für den Regelunterricht sind meist nicht ausreichend ausgebildet und extrem unterbezahlt.
Als letztes positives Beispiel für Inklusion im Unterricht verlassen wir Europa und blicken nach Nordamerika. Kanada gilt als Vorzeigeland, was eine gut funktionierende und fair umgesetzte Inklusionspolitik in Sachen Bildung angeht. Die Rahmenbedingungen für die Entstehung inklusiver Strukturen wurden hier bereits vor Jahrzehnten geschaffen. So ist ein barrierefreier Zugang und eine entsprechende Ausstattung der Schule Pflicht. Seit 1986 Jahren werden in Kanada Kinder mit und ohne Behinderung bis zur neunten Klasse gemeinsam unterrichtet. Um das umsetzen zu können, wird jede Klasse nicht nur von einer Lehrkraft, sondern zusätzlich auch von Therapeuten und Sonderpädagogen betreut. In vielen Klassen finden sich außerdem “educational assistants", welche den Kindern mit Unterstützungsbedarf im Unterricht helfen können. Durch sie gibt es die Möglichkeit, dass Kinder bei Schwierigkeiten oder benötigter Hilfe den Unterricht verlassen und mit den Assistenten in externe Räume gehen können, ohne dass der Unterricht für den Rest der Klasse unterbrochen werden muss.
Leider kann trotz der vielen Bemühungen eine inklusive Bildung nicht in jeder Region Kanadas umgesetzt werden. Wie sehr sich die Schule an die Kinder mit Behinderung anpassen und sich gegebenenfalls erneuern kann, hängt von den Möglichkeiten der jeweiligen Regionen ab, welche die Finanzierung der Neuerungen stellen müssen. Vor allem Schulen in einkommensschwachen Gegenden haben deshalb oft nicht die Möglichkeit, alle notwendigen Schritte zur vollständigen Eingliederung der Kinder mit Behinderung in ihren Unterricht gehen zu können.
Obwohl diese Länder als Vorzeigebeispiele für besonders gute Lösungsansätze in puncto inklusive Bildung gelten, zeigen sich auch hier noch Herausforderungen, die es in der Zukunft zu meistern gilt. Die Frage, wie Inklusion im Unterricht am besten umzusetzen ist, bleibt also weiter ungelöst. Trotzdem können Italien, Frankreich und Kanada für viele Länder, auch Deutschland, mit ihren Konzepten ein Beispiel für die Ausführung des Übereinkommens der UN Behindertenrechtskonvention sein. Denn bis die Inklusion von Schüler:innen mit Behinderung in allen Teilen der Welt zur Realität werden kann, ist es noch ein langer Weg.
Im nächsten Artikel unserer Themenwoche widmen wir uns der Marie-Pettenbeck Schule, welche zeigt, dass Inklusion auch in Deutschland gelingen kann.
Wie seht ihr die Inklusionsstrategien der vorgestellten Länder? Denkt ihr, Deutschland sollte sich ein Beispiel an ihnen nehmen? Schreibt es in die Kommentare!