Interview: Mit Grundschulkindern über Medienkonsum sprechen

Von
Birte Frey
|
19
.
November 2024
|
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Eine Lehrerin und Schüler beugen sich über einen Schultisch und besprechen eine Aufgabe

Schule ist ein wichtiger Ort, um über den Medienkonsum der Kinder zu sprechen (Quelle: Canva)

Medien sind aus dem Alltag unserer Kinder nicht mehr wegzudenken. Kinder wachsen heute unter vollkommen anderen medialen Bedingungen auf, als ihre Eltern und Großeltern. Häufig kommt es in Familien deshalb zu Streit. Eltern tun sich schwer, Grenzen bei der zeitlichen und inhaltlichen Nutzung zu setzen, Kinder und Jugendliche machen andererseits sehr frühzeitig Erfahrungen mit Medien, die nicht altersgerecht sind. Sie wissen häufig nicht, wie sie eine Situation einschätzen sollen, trauen sich aber auch nicht immer, um Hilfe zu bitten. Medienpädagogischer Unterricht kann hier die Lücke zwischen Kindern und Eltern schließen, indem er auf kindgerechte Weise Themen anspricht, Wissen vermittelt und den Schüler:innen die Möglichkeit gibt, über Probleme und Fragestellungen zu sprechen, heißt es im Buch “Mit Grundschulkindern über Medienkonsum sprechen”.

Das im Verlag an der Ruhr erschienene Buch beinhaltet 16 komplett ausgearbeitete Stundenvorschläge zu wichtigen medienpädagogischen Themen wie Cybermobbing, Fake News und Handy-Regeln. Die Autorin Nina Wilkening, die selbst lange als Lehrerin für Grund- und Hauptschulen in Baden-Württemberg tätig war, und inzwischen am Pädagogikseminar Hameln in der Lehrkräfteausbildung arbeitet, berichtet im Interview, warum Medienkompetenzvermittlung in der Grundschule so wichtig ist und was Lehrkräfte bei Stress im Klassenchat tun können. 

Wenn wir über Medien sprechen, auch im Sinne Ihres Buchs, meinen Sie dann alle Medien oder ist damit nur das Internet gemeint? 

Wilkening: Mir ist der Medien-Begriff als kompletter ganz wichtig. Wir haben diese “neuen” Medien, die ja gar nicht mehr so neu sind, die für viele Kinder aber tatsächlich inzwischen fast die einzigen Medien sind und dann noch Fernsehen. Aus meiner eigenen Kindheit kenne ich es noch so, dass man zu Hause Bücher hat und viele Bilderbücher vorgelesen wurden. Das geht heute ganz viel verloren, weil die Eltern das Zuhause viel weniger machen. Da hat die Schule eine ganz große Verantwortung, Kindern zu zeigen: Was gibt's denn sonst noch, außer sich berieseln zu lassen? Also nicht falsch verstehen: Wir haben uns früher auch schon berieseln lassen mit Kassetten und Platten, aber haben eben auch mal ein Buch in die Hand genommen. Dass man was Haptisches hat, das geht zunehmend verloren und auch dieser ganze Prozess des selber Lesens ist ja ein ganz anderer, als wenn man sich eben nur berieseln lässt. 

Wie unterscheidet sich die Wirkung des Internets auf Kinder im Vergleich zu Wirkung des Fernsehers?

Wilkening: Internet und Fernsehen sind sich eigentlich ähnlich, wobei Internet sehr viel schneller ist, was man zum Beispiel an TikTok-Videos sehr gut sieht. Wenn man einen Film, eine Dokumentation oder eine Kinderserie im Fernsehen anschaut, muss man sich über einen längeren Zeitraum konzentrieren und sich auf die Handlung einlassen. Da kommt man eher zur Ruhe als wenn es immer so schnell, schnell geht wie bei TikTok-Videos. Früher haben wir das Radio oder den Fernseher laufen lassen, aber man hat etwas anderes nebenbei gemacht. Ich habe als Kind viel gemalt und dann meine Platten oder Kassetten gehört – aber ich war noch selber beschäftigt. Dieses bildliche Fixieren auf das Handy heute, das nimmt einen ja komplett ein. Wenn ich alle paar Sekunden ein Video weiter wischen muss, kann ich nebenher nichts anderes machen. Kinder kommen heute so nicht mehr in dieses Gefühl der Langeweile, aus dem heraus eben auch Kreativität entsteht.

Warum ist es wichtig, dass Lehrkräfte in Grundschulen mit ihren Schüler:innen über Medien sprechen?

Wilkening: Ich finde das ganz wichtig, weil Schule so eine kompensatorische Funktion zum Elternhaus hat. Viele Kinder werden morgens um sieben in der Schule abgegeben und dann um 17 Uhr wieder abgeholt. Die sehen nicht viel von ihren Eltern und dann ist Schule eben der Ort, wo man ganz viel einwirken kann auf Kinder. Ein weiterer Aspekt ist, dass sich die Kinder uns Lehrkräften anvertrauen können, wenn sie im Internet was angestellt haben, ohne Konsequenzen zu fürchten. Zum Beispiel probieren viele Kinder Cybermobbing aus. Sie wissen aber von ihren Eltern, dass das, was Schlechtes ist, was sie nicht machen sollten. Da fällt es natürlich schwer, den Eltern den eigenen Fehler zu beichten. Lehrkräfte sind da unparteiischer und emotional nicht involviert, sodass sie Kinder gut unterstützen können in solchen Situationen – manchmal hilft ein Tipp oder das Angebot, das Gespräch mit den Eltern zu übernehmen. 

Was mache ich, wenn mir ein:e Schüler:in erzählt, dass er oder sie online gemobbt wird?

Wilkening: Zunächst mal zuhören und ganz viel sprechen. Und klären: Was hilft dir jetzt? Dann sollte man dem Kind erklären, welche Möglichkeiten es gibt, mit der Situation umzugehen und dann, je nachdem wie die Situation ist, die Eltern einschalten. Das ist wirklich immer ganz individuell. Aber sich als neutrale Ansprechperson anzubieten, wo man als Kind weiß: Ich kann mein Herz ausschütten und ich bekomme jetzt nicht die Konsequenzen, die ich zu Hause bekomme. 

Was empfehlen Sie bei Stress im Klassenchat?

Wilkening: In der Grundschule selber kommt es jetzt zum Glück noch nicht so oft vor, dass die Kinder so einen Klassenchat haben. Da sind es dann eher die Eltern, die auch unter Umständen in Chatgruppen ganz schön mies miteinander umgehen können und da sollte man sich als Lehrkraft tatsächlich heraushalten. Wenn die Kinder doch einen Klassenchat haben, dürfen wir da auch nicht involviert sein, weil es diese Chats offiziell so auch nicht geben darf. Aber man kann eben mit Kindern darüber reden. Dafür eignet sich zum Beispiel der Montagmorgenkreis oder der Klassenrat. Mein Tipp ist, das Ganze als Rollenspiel nachzuspielen und verschiedene Lösungswege auszuprobieren oder fiktive Tagebucheinträge zu schreiben. So muss sich kein Kind als von Mobbing betroffen vor der Klasse outen, aber alle können sich mal in eine betroffene Person reinversetzen. 

In Ihrem Buch starten Sie in jedes Thema mit einer Geschichte.  Warum sind Geschichten so ein guter Weg, um Kindern Themen wie Cybermobbing näherzubringen? 

Wilkening: Das ist eine dritte Möglichkeit, über das Thema zu reden, ohne konkrete Personen zu nennen. Über eine Geschichte kann ich mich reindenken in das Thema und über die Person in der Geschichte sprechen. Ich muss nicht unbedingt sagen, mir geht das auch so. Ich kann das im Anschluss machen, aber ich kann auch sagen, wenn ich diese Person wäre, dann wäre ich traurig und hätte Angst ausgelacht zu werden und wäre froh, wenn mir jemand aus der Klasse helfen würde. Wenn wir dann darüber sprechen, welche Möglichkeiten das Kind in der Geschichte hat, kann das betroffene Kind die Tipps auch für sich selbst anwenden und auch die restliche Klasse wird für ähnliche Situationen sensibilisiert. 

Über welche anderen Medienthemen sollte ich mit meinen Schüler:innen sprechen? 

Wilkening: Ich finde es ganz wichtig, dass man in der Schule über die Mediennutzung an sich spricht: wie viel, wie oft und in welcher Form Medien genutzt werden. So lernen die Kinder auch, dass es bei allen Kindern zu Hause Regeln zur Mediennutzung gibt und dass niemand von morgens bis abends zocken darf, auch wenn sich das manchmal in den Erzählungen der Kinder so anhört. Eine Stunde Medienzeit am Tag ist dabei für Grundschüler auch völlig in Ordnung. In der Realität wird man so gut wie kein Elternhaus finden, wo die Medienzeit so niedrig ist. Aber es ist auch in Ordnung, wenn es mal ein bisschen länger wird, solange das Kind Hobbys hat, sich bewegt und Freunde im realen Leben hat.

Wie kann ich als Elternteil mein Kind beim Medienkonsum gut begleiten?

Wilkening: Als Elternteil sollte man auf jeden Fall auf das Gesamtpaket achten: Hat das Kind soziale Kontakte außerhalb des Netzes? Trifft es sich mit anderen? Bewegt es sich? Ist es draußen an der frischen Luft? Schläft es gut? Wenn das gegeben ist, kann das Kind auch Medien nutzen. Wichtig ist: keine Medien abends vorm Schlafengehen, auch keine Hörspiele zum Einschlafen, weil Kinder die Geräuschkulisse im Schlaf nicht verarbeiten können. 

Das andere ist selber Vorbild sein, was auch schwierig ist in unserer Generation, weil wir unsere Smartphones viel benutzen. In meinem Buch gibt es eine Geschichte, da geht es um den Opa, der das Handy nicht weglegt – eine Situation, die viele zum Beispiel von Familienfeiern kennen! Kinder lernen durch Nachahmung. Das, was ich vorlebe, gebe ich auch weiter an meine Kinder. Eltern sollten Vorbild sein. 

Film einlegen und innerlich abschalten – wofür kann ich Medien gut im Unterricht einsetzen und wofür nicht?

Wilkening: Ich komme ja durch meinen Beruf ganz viel herum in vielen Schulen und die Kinder wachsen heute mit Smartboard auf in der Schule, die ganz verschiedene Funktionen haben. Das ist ja auch Mediennutzung und da steckt ganz viel Nützliches drin. Ich glaube, Filme geguckt werden heutzutage relativ wenige im Unterricht, wenn dann vor den Ferien. Aber was ich jetzt an einer Schule mitbekommen habe, was ich sehr schade finde, ist das in der Frühstückspause nicht mehr vorgelesen wird von der Lehrerin, sondern da werden Kinder-Nachrichten angeguckt, mit einem sicherlich guten Hintergedanken, dass Kinder auch Zugang zu Nachrichten haben sollen, aber ich glaube, das ist nicht nötig. Vorlesen ist viel wichtiger. Bücher sind eben das, was Fantasie anregt, wo man selber denken muss. Das Lesen ist nach wie vor eine Schlüsselkompetenz, die wir ausbilden müssen und die ganz wichtig ist. Das darf auf keinen Fall unter den Tisch fallen. 

Warum ist Medienkompetenzvermittlung in der Grundschule so wichtig? 

Wilkening: Medien machen einen großen Teil des Lebens von Kindern aus. Ich beobachte, dass viele Eltern Medien als Babysitter benutzen, wo Kinder davor gesetzt werden, weil die Eltern beschäftigt sind, weil sie arbeiten müssen oder selber mal abschalten wollen. Deshalb ist es wichtig, dass wir den Kindern erklären, welche Sendungen für ihr Alter geeignet sind und was sie lieber nicht gucken sollten. Es ist wichtig, dass man mit Kindern über diese Inhalte im Gespräch bleibt, damit sie sich an einen wenden, wenn sie etwas nicht verstehen oder ihnen dort etwas Beängstigendes begegnet. Also man muss Kinder auch ermutigen, sich Hilfe zu suchen. Oft ist es für Lehrkräfte und Eltern gar nicht erkennbar, wenn Kinder etwas beschäftigt oder ihnen Angst macht, weil sich diese Kinderlogik Erwachsenen oft gar nicht erschließt. Wir sind deshalb oft darauf angewiesen, dass sich Kinder an uns wenden, um ihnen helfen zu können. 

Wenn ich jetzt nur eine Schulstunde oder einen Projekttag zur Verfügung habe, um mit meinen Schüler:innen etwas zum Thema Medienkonsum zu machen – welche Aufgaben oder Themenbereiche aus Ihrem Buch würden Sie empfehlen? 

Wilkening: Wenn die Zeit so begrenzt ist, würde ich mir die Gruppe genau anschauen und überlegen, was sie gerade braucht, ob zum Beispiel Cybermobbing gerade Thema ist. Bei einer unbedarften zweiten oder dritten Klasse würde ich auf jeden Fall was zum Thema Handynutzung machen. Auch das Thema Fake News bietet sich an. Kinder sehen heutzutage auf TikTok Videos zur Weltpolitik, ob es jetzt um AFD und Hass gegen Ausländer oder die Wahlen in den USA geht. Kinder kriegen über Social Media einiges mit und können oft nicht entscheiden, welche Videos Fake und zum Beispiel KI-generiert sind. Lehrkräfte sind für Kinder Vertrauenspersonen, denen sie dann auch glauben, dass eine Nachricht falsch ist. Das ist eine gute Voraussetzung, um über Fake News zu sprechen. Da haben es Eltern oft schwerer, weil die Kinder oft mit “du kannst mir viel erzählen” begegnen. 

In Ihrem Buch gibt es viele verschiedene Materialien, die ich als Lehrkraft benutzen kann. Neben den Geschichten als Einstiegspunkt gibt's ja auch Bildkarten, Kopiervorlagen und Unterrichtsanregung. Wie setze ich diese Materialien am besten im Unterricht ein?

Wilkening: Um gemeinsam die Geschichten zu lesen und sich die Bilder dazu anzuschauen, eignet sich ein Sitzkreis oder eine Kinosituation. Es sollte eine vertraute, gemütliche Atmosphäre sein. Wenn der Lehrer dann die Geschichte vorgelesen und das Bild gezeigt hat, ist es wichtig, die Kinder erstmal sprechen zu lassen. Erstmal sacken lassen. Dabei kann den Kindern auch eine vorgegebene Fragestellung helfen. Wichtig hierbei ist die Einstellung des Lehrers, dass er sich herauszieht und die Kinder nicht das Gefühl haben, ich muss jetzt was erzählen, was der Lehrer von mir hören will, sondern ich kann frei sprechen. 

Dann sind immer Arbeitsblätter dabei, mit denen man weiter zu dem Thema arbeiten kann und dann kann man gucken: Ist es damit schon getan oder muss man das noch vertiefen und das Thema vielleicht in der nächsten Stunde noch mal aufgreifen? Da muss man empathisch auf die Kinder eingehen und kann gegebenenfalls noch einen Projekttag einplanen. Bei manchen Themen kann ein begleitender Elternabend noch sinnvoll sein!

Was möchten Sie Eltern und Lehrkräften zum Thema Medienkonsum von Kindern noch mit auf den Weg geben?

Wilkening: Es hat alles Vor- und Nachteile und ich denke, die Medien zu verteufeln wäre der falsche Weg. Wichtig ist eben dieses Vertrauen zu haben, offen miteinander zu kommunizieren und so eine gewisse Fehlerkultur, die eben auch im Umgang mit Mediennutzung da sein sollte. Man wird nicht immer alles richtig machen und die Kinder probieren sich aus. Es wird auch bei vielen Kindern mal dazu gehören, dass sie irgendwas im Chat schreiben, was nicht in Ordnung ist. Aber man muss wissen, da kann was passieren. Das Kind muss wissen: Ich kann mich mal irgendwo daneben benehmen, aber dann entschuldige ich mich und dann muss es wieder gut sein. Es geht nicht immer gleich die Welt unter und Fehler gehören dazu. Unterschiedliche Einsichten gehören dazu. Es gibt auch nicht die eine Lösung. Es ist individuell für jede Familie. 

Und auch Eltern machen Fehler. Ist es richtig, wenn ich meinem Viertklässler-Kind ein Handy gebe, damit es kein Außenseiter ist? Wahrscheinlich nicht, aber Eltern tun manchmal das Falsche, um ihre Kinder zu schützen. So ist es im Leben, man macht Fehler und man muss halt im Hinterkopf behalten, dass man sich bemüht. Die Kinder bemühen sich auch und sie machen eben auch Fehler. Vielleicht nimmt dieser Gedanke Eltern und Lehrkräften ein bisschen die Angst. 

Vielen Dank für das Gespräch!

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