Der Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung in Baden-Württemberg steht auf der Kippe. Bis jetzt ist unklar, wie die Umsetzung finanziert werden soll. (Quelle: Canva)
Stuttgart. Die Landesregierung in Baden-Württemberg ist nicht in der Lage, den gesetzlichen Anspruch auf Ganztagsbetreuung für Grundschulkinder ab 2026 zu gewährleisten. Nachdem im April zahlreiche Anträge der Kommunen auf Förderbeiträge für den Ausbau des Ganztagsangebots eingegangen waren, mussten die Regierungspräsidien Anfang dieses Monats mitteilen, dass aufgrund mangelnder finanzieller Mittel per Losverfahren entschieden wird, welchen Anträgen man stattgebe. Die betroffenen Städte und Gemeinden zeigten sich empört. Einige haben bereits entsprechende Investitionen in die Wege geleitet und müssen nun um die versprochene Förderung von 70 Prozent der Ausgaben bangen.
Das Ganztagsförderungsgesetz (GaFöG) ist bereits im Oktober 2021 unter der letzten Bundesregierung in Kraft getreten. Es bestimmt, dass für Grundschulkinder bundesweit ein Rechtsanspruch auf eine Ganztagsbetreuung von jeweils acht Stunden an fünf Tagen in der Woche besteht. Die Durchsetzung des Gesetzes ist in einem Zeitrahmen vorgesehen, der ab 2026 ein Ganztagsangebot für alle Erstklässler:innen und bis 2029 für Schüler:innen aller Grundschulklassen garantiert. Um den notwendigen Ausbau der Infrastruktur zu gewährleisten, gibt es zunächst ein Sondervermögen von 3,5 Mrd. Euro aus dem Bundesetat. Ab 2026 unterstützt der Bund den Betrieb mit jährlich steigenden Ausgaben, welche ab 2029 höchstens 1,5 Mrd. Euro pro Jahr betragen werden. Aus diesen Zuschüssen stehen den Ländern unterschiedliche Anteile zur Verfügung, die sie unter den Schulträgern nach Bedarf verteilen sollen.
Schon vor eineinhalb Jahren warnte der Gemeindetag Baden-Württemberg, dass die Ganztagsbetreuung in dem Land nicht für alle Grundschulkinder im vorgesehenen Zeitrahmen zu garantieren sei, da die nötigen Veränderungen und Investitionen die verfügbaren Mittel übersteigen würden. Nun bewahrheitet sich diese Befürchtung, da gegen eine Antragssumme von etwa 1,2 Mrd. Euro eine Fördersumme von gerade einmal 380 Mio. Euro steht. Die Landesregierung reagierte auf diesen Widerspruch mit der Entscheidung, ein Losverfahren für die Annahme und Ablehnung von Anträgen zu verwenden. Demnach wird ein Großteil der Kommunen auf den Kosten sitzen bleiben oder nicht im Stande sein, den Rechtsanspruch ab 2026 zu gewährleisten.
Besonders misslich ist die Lage für Gemeinden, die bereits Aufträge, beispielsweise für die räumliche Erweiterung von Grundschulen, erteilt haben, in der festen Erwartung, den Förderanteil von 70 Prozent erstattet zu bekommen. Der Oberbürgermeister von Hemmingen, Thomas Schäfer, ist in Sorge, da seine Gemeinde Firmen für den Ausbau des Horts der örtlichen Grundschule beauftragt hat. Die Kosten werden sich auf 2,2 Mio. Euro belaufen. Ob es den erwarteten Zuschuss geben wird, hängt nun rein vom Zufall ab. “Dass gelost werden muss, habe ich nicht für möglich gehalten”, sagte er gegenüber dem SWR vor zwei Wochen. Von der Landesregierung fühlt er sich im Stich gelassen. “Und dann ist man als Kommune wieder das letzte Glied in der Kette. Wir dürfen die Suppe dann auslöffeln!”
Die Empörung der Kommunen findet ihr Echo in diversen aufgebrachten Stellungnahmen. Der Gemeindetag Baden-Württemberg erinnerte in einer öffentlichen Mitteilung daran, dass aus dessen Reihen schon vor Verabschiedung des Gesetzes gewarnt worden war, ein Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung sei schlicht nicht realisierbar. Er wies außerdem auf die Verantwortung des Landes hin, welches das Gesetz durch den Bundesrat mitgetragen hatte, für die fehlenden Mittel aufzukommen. Das jetzige Verhalten sei “Ausdruck einer unverantwortlichen Politikgestaltung, die sich sehenden Auges vollzogen hat” und führe zu einem Vertrauensverlust seitens der Gemeinden. Schließlich forderte der Gemeindetag, den Rechtsanspruch entweder zurückzunehmen oder die Fristen zu verschieben.
Der Präsident des Städtetags Baden-Württemberg, Frank Metrup, wiederholte dieselben Vorwürfe und Forderungen und fand deutliche Worte: “Das Losverfahren wird dieser Verpflichtung nicht gerecht und lässt uns im Regen stehen.” Der Vorgang sei ein “Trauerspiel”. In einem offenen Brief an das Kultusministerium äußerten der Oberbürgermeister der Stadt Emmendingen, Stefan Schlatterer, und seine Kollegin, Bürgermeisterin Hannelore Reinbold-Mench, nicht nur ihre Bedenken über die Unzufriedenheit der Kommunen, sondern auch der Eltern, deren Erwartung auf gesetzlich garantierte Ganztagsbetreuung nun enttäuscht wird.
Die Opposition der schwarz-grünen Landesregierung meldete sich ebenfalls mit Empörung zu Wort. “Der Gipfel der Verantwortungslosigkeit ist es aber, die viel zu knappen Mittel nicht nach sachlichen Prioritäten zu verteilen, sondern sie wie auf dem Rummel zu verlosen”, ließ Andreas Stoch, Vorsitzender der SPD-Landtagsfraktion, in einer Pressemitteilung verlauten. “Diese Tombola ist ein Tiefschlag gegen unsere Kommunen.” Der Sprecher für frühkindliche Erziehung der FDP-Fraktion, Dennis Birnstock, betitelte das Vorgehen der Landesregierung als “weitestgehend planlos” und warnte vor dem “absoluten Chaos”, das eintrete, wenn das Land nicht mit eigenen Mitteln für die Deckung des Rechtsanspruchs zum Stichtag des Schuljahresbeginns 2026 sorgte. Das Kultusministerium verteidigte seine Strategie bisher. Normalerweise nehme man die Anträge in der Reihenfolge, in der sie gestellt werden, an. Da in diesem Fall aber alle Anträge zeitgleich eintrafen, sehe man sich veranlasst, das Losverfahren anzuwenden.
Baden-Württemberg bringt im Bundesvergleich schlechte Voraussetzungen mit, um den Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung zu decken. Mit nur 30 Prozent bietet in diesem Bundesland bislang der geringste Anteil der Grundschulen die Möglichkeit einer Ganztagsbetreuung an. Dabei pocht auch die Wirtschaft auf einen Ausbau, um Arbeitnehmer:innen zu entlasten. Aus einer Studie der Bertelsmann-Stiftung ging hervor, dass bis zum Ende des Jahrzehnts voraussichtlich 100.000 Fachkräfte fehlen werden, die nötig wären, um ein deckendes Angebot bereitzustellen.
Allerdings ist das Land nicht alleine mit diesen Sorgen. Auch in Niedersachsen zeichnet sich gerade ab, dass der Rechtsanspruch aufgrund personeller und finanzieller Mängel möglicherweise nicht umsetzbar ist. In Nordrhein-Westfalen hingegen sieht die Lage besser aus: Hier investiert die Landesregierung selbst viel in die Ganztagsbetreuung und prognostiziert ein Angebot von 650.000 verfügbaren Ganztagsplätzen ab 2030 bei einem geschätzten Bedarf von 590.000 Plätzen, was 80 Prozent der Grundschüler:innen ausmachen wird.