Inklusion – vor allem an Schulen – ist ein ambivalentes Thema. Obwohl Konsens darüber herrscht, dass Inklusion gefördert werden muss und die Politik sich mit Unterzeichnung der UN-Behindertenrechtskonvention offiziell dazu verpflichtet hat, sieht die Realität an deutschen Schulen häufig anders aus. Lehrer- News zeigt euch, welche Chancen und Schwierigkeiten es beim Unterfangen der Etablierung von Inklusion in den Schulalltag gibt.
Inklusion ist in erster Linie ein sozialpolitisches Konzept, das die Diversität und Heterogenität der Gesellschaft anerkennt und fördert. Alle Menschen – auch Menschen mit Behinderung – sollten als gleichwertige Mitglieder an der Gesellschaft partizipieren können. Damit eine solche umfassende Teilhabe stattfinden kann, ist die Eliminierung von Barrieren aller Art essenziell. Inklusion verlangt nach Strukturen, die sich an die Bedürfnisse von Menschen mit Behinderung anpassen. Für einen behinderten Menschen kann schon eine Treppe eine unüberwindbare Barriere darstellen. Abhilfe schaffen hier inklusive Strukturen wie Rampen und Aufzüge. Jedoch gibt es Umgebungen, für die die Lösung weniger intuitiv ist: Die deutsche Bildungslandschaft kämpft seit Jahren mit der Etablierung von Inklusion im Schulwesen. Lange Zeit galten Förderschulen als das Äquivalent zu den Rampen und Aufzügen in puncto Bildung. Förderschulen bieten sonderpädagogischen Unterricht in Kleingruppen für Kinder und Jugendliche mit Behinderung an. Die Kultusministerkonferenz (KMK) unterscheidet dabei zwischen acht Förderschwerpunkten, die beispielsweise das Lernen, die Sprache und die soziale und emotionale Entwicklung betreffen. Spätestens mit dem Inkrafttreten der UN-Behindertenrechtskonvention am 26. März 2009 in Deutschland geriet das Konzept „Förderschule“ jedoch stark in die Kritik.
„Inklusion ist ein Recht” (Yetnebersh Nigussie, Trägerin des alternativen Nobelpreises 2017, im Interview mit Raul Aguayo-Krauthausen )
Der Artikel 24 der UN-Behindertenrechtskonvention, der spezifisch den Aspekt der Bildung behandelt, besagt:
„Die Vertragsstaaten anerkennen das Recht von Menschen mit Behinderungen auf Bildung. Um dieses Recht ohne Diskriminierung und auf der Grundlage der Chancengleichheit zu verwirklichen, gewährleisten die Vertragsstaaten ein integratives Bildungssystem auf allen Ebenen (…).“ Weiter heißt es: „Menschen mit Behinderungen nicht aufgrund von Behinderung vom allgemeinen Bildungssystem ausgeschlossen werden und dass Kinder mit Behinderungen nicht aufgrund von Behinderung vom unentgeltlichen und obligatorischen Grundschulunterricht oder vom Besuch weiterführender Schulen ausgeschlossen werden (…).“
In den Augen vieler Förderschulen-Gegner liest sich der Artikel wie ein Plädoyer gegen Förderschulen: Der Tenor „Alle lernen gemeinsam“ scheint schwer mit dem Erhalt dieser Schulform vereinbar zu sein. Verstärkt wird der Eindruck mit einem Blick in die englische Originalfassung. Hier ist nämlich nicht von Integration – wie die deutsche Version es vermuten lässt – sondern von „inclusive education“, also Inklusion die Rede. Tatsächlich bezeichnen Integration und Inklusion zwei grundlegend unterschiedliche Konzepte und damit verbundene Sichtweisen auf die Gesellschaft. Während die Integration auf die Anpassung einer „kleinen Außengruppe“ an die homogene Mehrheit abzielt, geht es bei der Inklusion darum, dass das System so gestaltet wird, dass es jedem zugänglich ist. Verfechter der Inklusion kritisieren diese unpräzise Übersetzung scharf, während sie Inklusionsgegnern als Legitimationsgrund für ihren Standpunkt dient.
Darüber hinaus sehen viele Gegner der Inklusion, wie der Gymnasiallehrer und Aktivist Michael Felten, in der Auflösung von Förderschulen das Ende der individuellen Pädagogik. In seinem Buch „Die Inklusionsfalle“ argumentiert er, dass Förderschulen ein „Schon- und Schutzraum” für behinderte Kinder seien und deshalb auch erhalten bleiben sollten. Auch auf seiner Website „Inklusion als Problem“ vertritt der Pädagoge den Standpunkt, dass nicht jedes Kind an jeder Schule gut unterrichtet werden könne. Dieser Ansicht liegt die Akzeptanz eines mehrgliedrigen deutschen Schulsystems zugrunde. Eine Akzeptanz, die viele Inklusionsbefürworter nicht aufbringen können. Sie argumentieren, dass Inklusion und ein strukturell selektives Schulsystem einen klaren Widerspruch darstellen. Das selektive Schulsystem ist die Grundlage für die Existenz von Förderschulen. Insofern könnte man die Aussage dahingehend verändern, dass Inklusion und Förderschulen unvereinbar sind.
Eine Aussage, die auch der Inklusions-Aktivist Raúl Aguayo-Krauthausen unterschreiben würde. Krauthausen, der Osteogenesis imperfecta („Glasknochen“) hat, kleinwüchsig ist und im Rollstuhl sitzt, hat in den achtziger Jahren selbst eine der ersten inklusiven deutschen Schulen besucht. In seinen drei veröffentlichten Büchern spricht er sich für Inklusion und gegen die „Ghettoisierung bei Menschen mit Behinderung“ aus. Diese sogenannte Ghettoisierung beginne laut Krauthausen in den Bildungseinrichtungen und ziehe sich über Behindertenwohnheime bis zur Behindertenwerkstätte fort. Sein im März dieses Jahres erschienenes Buch mit dem eindeutigen Namen „Wer Inklusion will, findet einen Weg. Wer sie nicht will, findet Ausreden.“ ist eine Replik auf das Buch Michael Feltens, in dem er hart mit dem von Felten postulierten „Schonraum“ ins Gericht geht. Dieser sei letztlich kontraproduktiv. Dabei zieht Krauthausen Parallelen zur Fremdenfeindlichkeit.
„Wir sehen ja auch - anderes Beispiel -, dass die Fremdenfeindlichkeit genau dort am größten ist, wo der Ausländeranteil besonders gering ist”, sagt Krauthausen.
Michael Felten und Raúl Krauthausen sind zwei Extreme einer Medaille. Die Inklusions- Debatte ist emotional stark aufgeladen. Um einer Diskursverschiebung entgegenzuwirken und die Wissenschaftlichkeit der Diskussion zu gewährleisten hat Klaus Klemm – Professor für Bildungsforschung – vier Bereiche der Inklusion definiert:
„Förderquote: Sie gibt den Anteil der Schüler und Schülerinnen mit Förderbedarf an allen Schülerinnen und Schülern mit Vollzeitschulpflicht in allgemeinbildenden Schulen der Primär- und Sekundarstufe I an – unabhängig von ihrem Förderort.
Exklusionsquote: Diese Quote gibt den Anteil der Schüler und Schülerinnen mit Förderbedarf, die separiert in Förderschulen unterrichten werden, an allen Schülerinnen und Schülern mit Vollzeitschulpflicht in allgemeinbildenden Schulen der Primär- und Sekundarstufe I an.
Inklusionsquote: Sie gibt den Anteil der Schüler und Schülerinnen mit Förderbedarf, die inklusiv in allgemeinen Schulen unterrichtet werden, an allen Schülerinnen und Schülern mit Vollzeitschulpflicht in allgemeinbildenden Schulen der Primär- und Sekundarstufe I an.
Inklusionsanteil: Er gibt den Anteil der Schüler und Schülerinnen mit Förderbedarf, die inklusiv unterrichtet werden, an allen Schülerinnen und Schülern mit Förderbedarf an.“
Klemm selbst veröffentlichte 2015 im Auftrag der Bertelsmann Stiftung eine Studie zum Thema „Inklusion in Deutschland", in der er auf 40 Seiten zu dem Schluss kommt, dass der Lernerfolg behinderter Kinder an Förderschulen deutlich geringer ausfällt. In Anlehnung an Michael Feltens Schonraum degradiert er diesen zur „Schonraumfalle“. Der Tenor, den Wissenschaft und UN-Behindertenrechtskonvention vorgeben, lautet also: weniger Förderschulen, mehr inklusiver Unterricht. Aber wo steht Deutschland heute 14 Jahre nach dem Beitritt zur UN-Konvention bei deren Umsetzung wirklich?
Eine 2020 veröffentlichte repräsentative Forsa-Umfrage zur Inklusion ergab, dass inklusiver Unterricht nicht ausreichend realisiert wird. Udo Beckmann, Bundesvorsitzender des Verbandes Bildung und Erziehung (VBE) von 2009 bis 2022 resümierte, dass „die Diskrepanz zwischen dem Stellenwert, den Politik der schulischen Inklusion in Sonntagsreden einräumt, und den Ressourcen, die sie tatsächlich bereit ist, für eine gelingende Inklusive zur Verfügung zu stellen“ groß sei. Damit reagierte er direkt auf die KMK für das Schuljahr 2019/20. Auch die Vorsitzende des Bayerischen Lehrer- und Lehrerinnenverbandes (BLLV) betonte, dass Inklusion kein Sparmodell sein dürfe. Die BLLV veröffentlichte am 30. Mai 2022 eine Befragung, bei der 97% der 695 befragten Lehrkräfte Inklusion unter den derzeitigen Rahmenbedingungen für nicht realisierbar hielten. Die Hauptsorge war hier der Lehrkräftemangel. Auch von Seiten der Elternverbände wird Kritik, vor allem an der Politik geäußert: „Es ist unter Schulpolitikern inzwischen ein Trend, sich verbal zu Inklusion und der UN-Konvention zu bekennen, wenn man das Kleingedruckte liest, bleibt davon nicht viel übrig“, so Maria Thoms vom Elternverein mittendrin e.V gegenüber der taz. Mit dem „Kleingedruckten“ spielt sie auf die Praktik an, dass Kinder vor dem Besuch einer Regelschule auf ihre „Integrationsfähigkeit“ untersucht werden. Der Erziehungswissenschaftler und Sonderpädagoge Hans Wocken sieht genau darin einen „Etikettenschwindel“. Die Inklusionquote an Regelschulen sei zwar deutschlandweit erhöht worden, dennoch habe sich der Anteil an Schüler:innen in Förderschulen kaum verändert, kritisierte er gegenüber dem deutschen Schulportal der Robert Bosch Stiftung. Wocken macht dafür die Klassifizierung verantwortlich: Kinder, die früher als Risikoschüler:innen eingestuft wurden, werden heute „mit dem Etikett des sonderpädagogischen Förderbedarfs versehen“, so Wocken in dem Interview.
„Die Inklusionsquote ist daher kein verlässlicher Indikator für den Erfolg der Reform, wenn man nicht gleichzeitig auch die Exklusionsquote mitbetrachtet.“ (Hans Wocken)
In der bereits erwähnten Studie „Inklusion in Deutschland“ betont auch Klaus Klemm: „Die in der vorgelegten Studie präsentierten bildungsstatistischen Analysen haben gezeigt, dass für die Erreichung dieses Ziels ein aussagefähiger Indikator nicht der jeweils realisierte Inklusionsanteil, sondern die Exklusionsquote ist. Allein dieser Indikator „Exklusionsquote“ ist geeignet, Aufschluss darüber zu geben, wie viele junge Menschen aufgrund ihrer Behinderung von allgemeinen Schulen ausgeschlossen bleiben. Die Konzentration auf Exklusionsquoten ist auch deshalb zwingend, weil schon heute in einigen Bundesländern in den allgemeinen Schulen ein sonderpädagogischer Förderbedarf statistisch nicht mehr erfasst wird.“
Wie ihr seht, ist die Debatte sehr komplex und eine Positionierung nicht einfach. Lehrer-News hat für euch nachfolgend die am häufigsten genannten Vor- und Nachteile der Inklusion an Schulen noch einmal zusammengefasst. Zusätzlich findet ihr hier den aktuellen Policy Brief Inklusion mit Handlungsempfehlungen zum Thema Inklusion im Lehramtsstudium.
Nachteile von Inklusionsschulen:
Vorteile von Inklusionsschulen:
Resümierend ist festzustellen, dass die Politik bei der Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention hinterherhinkt. Kern der Debatte ist schon lange nicht mehr, ob Inklusion an deutschen Schulen stattfinden sollte, sondern wie sie am besten umgesetzt werden kann. Es geht darum Wege der Finanzierung und nachhaltige Lösungen für den Lehrermangel zu finden. Vor allem aber muss das inklusive Selbstverständnis der Schulen geschärft werden. Erst ein Umdenken der Schulkulturen in Bezug auf Inklusion wird den Weg für inklusive Strukturen ebnen. Die Debatte darf nicht weiterhin auf den Schultern der behinderten Kinder ausgetragen werden. Im Rahmen unserer Themenwoche werden wir euch ein Schulbeispiel vorstellen, bei dem dieser Umschwung im vollen Gange ist. Zudem werden wir uns anschauen, wie Inklusion in anderen Teilen der Welt umgesetzt wird.
Wie hat euch der Artikel gefallen? Was ist eure Position in der Debatte? Habt ihr selber schon Erfahrungen mit inklusivem Unterricht machen können? Schreibt es gerne in den Kommentare.